Kleben Kleben fängt vor dem Kleben an (Teil I)
Beim Kleben muss die gesamte Prozesskette betrachtet werden: von der Planung über die zu verwendenden Materialien bis hin zu einer eventuellen Nacharbeit. Teil 1: die DIN 2304-1 und der risikobasierte Ansatz.
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Kleben ist aus der Konstruktion nicht mehr wegzudenken. Die Applikationen reichen von der Mikroelektronik mit Klebstoffmengen im Bereich von wenigen Milligramm über medizinische Anwendungen, die uns beispielsweise in der Zahnmedizin alltäglich begegnen, bis zu Anwendungen in der Energietechnik, wo bei der Verklebung der Rotorblätter für Windkraftanlagen mehrere Hundert Kilogramm Klebstoff pro Teil benötigt werden. Auch der moderne Automobilbau wäre ohne Kleben nicht möglich. Insbesondere der auf einer Kombination von verschiedenen Werkstoffen beruhende Leichtbau und somit das Erfüllen der der Anforderungen zur Verringerung der CO2-Emissionen bei gleichzeitiger Beibehaltung des Sicherheits- und Komfortstandards könnte ohne Klebstoffe nicht realisiert werden.
„Können wir kleben oder muss es halten?“
Doch bei aller Vielfalt und offensichtlichem Anwendungsnutzen begegnet den Autoren dennoch häufig der Satz: „Können wir kleben oder muss es halten?“ – die Skepsis gegenüber dieser Technologie ist offensichtlich immer noch groß. Auch negative Erfahrungen, wie z.B. der kürzlich in der konstruktionspraxis beschriebene Schadensfall an einem geklebten E-Motor [2] mögen dabei eine Rolle spielen.
Die vom Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut (NMI) der Universität Tübingen erstellte Studie „Sicheres Kleben“ [1] offenbart einen weiteren Aspekt. Eine Umfrage unter Klebstoffherstellern, -anwendern und Anbietern klebtechnischer Ausrüstung hat ergeben, dass die Vorteile der Klebtechnik zwar allgemein bekannt und akzeptiert sind, aber auch, dass das Kleben häufig nicht durchgehend geplant und der Klebprozess nicht überall sicher beherrscht wird. Fachleute schätzen, dass mindestens 90 % der Schadensfälle – die insgesamt aber selten sind – auf Anwendungsfehler und nicht auf fehlerhafte Klebstoffe zurückzuführen sind.
DIN 2304-1 Klebtechnik – Qualitätsanforderungen an Klebprozesse
Diese Einschätzung bestätigt eine kürzlich veröffentliche Umfrage [4] der Isgatech GmbH unter 120 Fachleuten der Klebtechnik. Das Ergebnis: Kleben funktioniert im Wesentlichen, doch die Anwender sind noch vielfach auf der Suche nach der richtigen Lösung. Diesen Missstand zu ändern, darin bestand die wesentliche Motivation für die Erstellung der im März 2016 erschienenen DIN 2304-1 Klebtechnik – Qualitätsanforderungen an Klebprozesse – Teil 1: Prozesskette Kleben [3], die den aktuellen Stand der Technik für die fachgerechte Umsetzung klebtechnischer Prozesse festlegt.
Da es an zuverlässigen Methoden zur zerstörungsfreien Prüfung von Klebeverbindungen mangelt, stellt das Kleben gemäß ISO 9001:1994 [5] einen „speziellen Prozess“ dar. Daraus resultieren besondere Anforderungen an die technische und organisatorische Qualitätssicherung. Genau hier setzt die DIN 2304-1 an: Wenn Fehler zerstörungsfrei im Rahmen einer Qualitätsprüfung nicht zu 100 % nachgewiesen werden können, müssen sie vermieden werden! Die ISO 9001 sieht hierfür den „Umweg“ über eine technische und organisatorische Qualitätssicherung vor.
Die DIN 2304-1 – eine Hilfe zur gesamtheitlichen Qualitätssicherung
Die schon mehrfach erwähnte DIN 2304-1 ist aus der DVS-Richtlinie 3310 und der schon seit 2006 durch das Eisenbahnbundesamt für alle Klebungen im Schienenfahrzeugbau als Stand der Technik festgelegten Normenreihe DIN 6701 hervorgegangen. Sie konkretisiert die Anforderungen für alle Klebungen entlang der gesamten Prozesskette für eine qualitätsgerechte Ausführung, die schon mit der DIN EN ISO 9001 sehr allgemein an alle sog. „spezielle Prozesse“ gestellt werden. Sie konkretisiert für alle Klebungen mit der Hauptfunktion einer Lastübertragung unabhängig
- von den Verformungs- und Festigkeitseigenschaften des Klebstoffs
- vom Verfestigungsmechanismus des Klebstoffs
- von der Branche, in der, bzw. für die der geklebte Werkstoffverbund gefertigt wird.
Die Norm richtet sich also in erster Linie an die Anwender von Klebstoffen. Sie gilt jedoch nicht für solche Klebungen, die bereits durch andere anerkannte und bewährte Regelwerke, Normen, Standards oder Zulassungen geregelt sind.
Der DIN 2304-1 liegt ein risikobasierter Ansatz zugrunde
Der DIN 2304-1 liegt der schon in der ISO 9001 geforderte risikobasierte Ansatz zugrunde: Am Anfang der Planung eines klebtechnischen Prozesses steht die Einstufung der Klebverbindung in eine der vier Sicherheitsklassen S1 – S4. Die Einstufung im Sinne der Norm erfolgt, in der Regel durch den Bauteilverantwortlichen allein unter Berücksichtigung der Auswirkungen eines Versagens der Kraftübertragungsfunktion. Anderweitige aus anderen Regelwerken resultierende Anforderungen, wie z.B. eine eventuelle Lebensmitteltauglichkeit, bestimmte Brandschutzeigenschaften oder Kompatibilität mit Arbeits- und Umweltvorschriften werden für die Klassifizierung innerhalb dieser Norm nicht berücksichtigt.
Die Kriterien für die Einstufung in eine der vier Sicherheitsklassen, so wie sie in der DIN 2304-1 festgelegt sind, sind in der Tabelle 1 wiedergeben. Die Einstufung in eine Sicherheitsklasse muss unter sorgfältiger Abwägung der
- Schwere der Störung
- Wahrscheinlichkeit des Auftretens
- Möglichkeit eines (rechtzeitigen) Erkennens des Fehlers
mit einem gewissen Maß an Fingerspitzengefühl und gesundem Menschverstand erfolgen.
Am Ergebnis der Sicherheitsbewertung orientiert sich sinnvollerweise auch der Aufwand für den Klebprozess, je höher das Risiko desto umfassender die Anforderungen aus der DIN 2304-1. Kommt die Sicherheitsklasse S1 bis S3 zur Anwendung, so definiert die Norm die für die jeweiligen Abschnitte der Prozesskette zu erfüllenden Mindestanforderungen. Ergibt die nachvollziehbar begründete und dokumentierte Einstufung die Sicherheitsklasse S4, sind keine weiteren, aus der DIN 2304-1 resultierenden Anforderungen zu erfüllen.
Qualifikation des klebtechnischen Personals
Ohne Frage kommt der Qualifikation des klebtechnischen Personals, anlog des ebenfalls „speziellen Prozesses“ Schweißen, eine hohe Bedeutung zu. Dieser Umstand spiegelt sich auch in den aus der DIN 2304-1 resultierenden Anforderungen wider. Die Norm unterscheidet zwischen ausführendem und Aufsichtspersonal (KAP, Klebaufsichtspersonal) und setzt voraus, dass beides in angemessenem Umfang und je nach Sicherheitsklasse vorhanden ist. Dem KAP, als zentraler Ansprechstelle für alle qualitätsbeeinflussenden Faktoren entlang der Prozesskette, d.h. von der Planung über Beschaffung und Fertigung bis hin zu einer eventuellen Nacharbeit, kommt eine besondere Bedeutung zu. Als Maßstab für die Qualifikationen gelten die Inhalte der einschlägigen Richtlinien des Deutschen Verbandes für Schweißtechnik und verwandte Verfahren (DVS), bzw. der European Welding Foundation (EWF). (ud)
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DIN 2304-1
Kleben fängt vor dem Kleben an (Teil II)
[1] Studie Sicheres Kleben, Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut (NMI) der Universität Tübingen, 2015
[2] Werner Erlenmeier, Walter Thiel, Verklebung ungenügend, Konstruktionspraxis 1.2017
[3] DIN 2304-1, Klebtechnik – Qualitätsanforderungen an Klebprozesse – Teil 1: Prozesskette Kleben, DIN Deutsches Institut für Normung e.V., Beuth Verlag, Berlin, 2016
[4] Dicht, 1.2017, Leserumfrage zu offenen Themen in der Klebtechnik
[5] DIN EN ISO 9001:1994, Qualitätsmanagementsysteme – Modell zur Qualitätssicherung/QM-Darlegung in Design/Entwicklung, Produktion, Montage und Wartung, DIN Deutsches Institut für Normung e.V., Beuth Verlag, Berlin, 1994
[6] DIN EN ISO 9001:2015, Qualitätsmanagementsysteme – Anforderungen, DIN Deutsches Institut für Normung e.V., Beuth Verlag, Berlin, 2015
* *Prof. Dr. Christian Dietrich ist Klebfachingenieur (EAE) Fachgebiet Fertigungstechnik, Kunststofftechnik und Klebtechnik Fakultät Produktionstechnik und Produktionswirtschaft an der Hochschule Ulm und Dr. Hartwig Lohse ist Inhaber der Klebtechnik Dr. Hartwig Lohse e.K. in Breitenberg
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