30 Jahre Baumwurzelbewegung Von der Körpersprache der Bäume zum dauerfesten Leichtbauteil

Von C. Mattheck |

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Prof. Dr. Claus Mattheck vom KIT ist unter anderem Experte für Bauteiloptimierung und gilt als Vorreiter der Bionik. Anläßlich des 30jährigen Jubiläums der konstruktionspraxis schaut er zurück auf 30 Jahre Baumwurzelbewegung und gibt einen Rückblick in Wort und Bild.

Bäume lügen nicht: Ihre Gestalt ist immer die Reaktion auf äußere Einwirkungen oder innere Schäden. Prof. Mattheck und seine Kollegen vom KIT haben die Prinzipien, wie Bäume sich entwickeln und reparieren, erkannt und sukzessive auf die Optimierung von Bauteilen übertragen.
Bäume lügen nicht: Ihre Gestalt ist immer die Reaktion auf äußere Einwirkungen oder innere Schäden. Prof. Mattheck und seine Kollegen vom KIT haben die Prinzipien, wie Bäume sich entwickeln und reparieren, erkannt und sukzessive auf die Optimierung von Bauteilen übertragen.
(Bild: / CC0)

Es war in den Kerkern der Staatssicherheit, wo ich zum ersten Mal ganz innig erfuhr, was ein Baum spenden kann: Trost und jenen tiefen Frieden, der aus der Erde kommt. Ich sah ihn durch einen Spalt neben der Blechblende vor dem Fenster. Grün und stark und beständig. Er hatte so viel überlebt und ich würde es auch...

Leichtbau nach dem Vorbild der Natur

Später wurden sie meine Lehrmeister und ich lernte ihre Körpersprache, lehrte sie den Baumfachleuten von Japan bis Nordamerika und schuf zusammen mit den wackeren Kriegern des Biomechanikdorfes am Forschungszentrum Karlsruhe, dem heutigen KIT Karlsruher Institut für Technologie, Methoden zur Bauteiloptimierung: dauerfeste Leichtbauteile nach dem Vorbild der Natur, zuerst computergestützt und heute auch ohne Computer mit Denkwerkzeugen und Universalformen aus der Natur für die Technik!

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Die Denkwerkzeuge finden zunehmend auch Eingang in das Unterrichtsfach NwT: Naturwissenschaft und Technik am Gymnasium.

Die Mechanik der Bäume

Das Schlüsselerlebnis war eine seltsam gewachsene Kiefer am Atlantik, die geschaffen war, den Forschergeist zu entfachen und sie verfehlte ihre Wirkung nicht.

Zuerst galt es, die Bäume, deren Namen ich nicht einmal immer kannte, zu verstehen. In den Rheinauen, in denen ein Baumleben schneller abläuft – Wachsen, Versagen und Verfaulen – fanden sich viele interessante Baumveteranen, die alle plausibel machten, dass es ein lastgesteuertes Wachstum gibt und der Baum sein eigenes Tagebuch ist, ein Tagebuch in Holz. Resultat war ein erster interner Bericht: „Warum sie wachsen, wie sie wachsen - Die Mechanik der Bäume“ [1]. Das war auch der Titel meiner Antrittsvorlesung als Privatdozent der Universität Karlsruhe. Später folgte „Trees -The Mechanical Design” im Springer-Verlag [2].

VTA: Visual Tree Assessment

Wir entwickelten dann die Baumkontrollmethode VTA: Visual Tree Assessment, verbreiteten diese weltweit in einem Wissenschaftscartoon: „Stupsi erklärt den Baum”, der heute in zehn Sprachen existiert [3]. Das aktuelle VTA-Wissen ist in einer dicken Enzyklopädie: „Die Körpersprache der Bäume“ gebündelt, die u.a. ins Koreanische und Japanische übersetzt wurde [4].

CAO: Computer Aided Optimization

Zur Bauteiloptimierung fanden wir, indem wir Kerben in Bäume schnitzten und beobachteten, dass die Bäume an Orten höchster Kerbspannung das meiste Wundholz anlagerten. Die Computersimulation dieses Vorganges nannten wir „Computer Aided Optimization”. Man berechnet die Misesspannung mit einem FEM-Programm, setzt diese gleich einer fiktiven Temperaturverteilung und heizt damit in einem zweiten Rechengang die Struktur auf. Am Orte der Kerbspannung findet sich nun die heißeste Stelle, die größte Wärmeausdehnung der weich gesetzten Oberfläche und damit wird das lastgesteuerte Wachstum simuliert. Nach wenigen Iterationen hat man eine deutlich bessere Bauteilgestalt [5, 6].

SKO: Soft Kill Option

Wer Leichtbau will, muss Faulpelzecken im Bauteil ausmerzen. Kaum einer kann das besser als die Fresszellen im Knochen, die erbarmungslosen Osteoclasten. Man macht ein stets zu großes FEM-Startdesign, belastet und lagert es wie im späteren Betrieb geplant und berechnet wieder die Misesspannungen. Orte minderer Misesspannung werden im nächsten Rechenschritt weicher gemacht und schließlich gekillt. Weicheier werden zu Löchern, was auch Topologieoptimierung heißt.

CAO und SKO wurden mehrfach in Lizenz gegeben und werden heute noch in der Industrie genutzt [6].

Computerfreie Denkwerkzeuge: nach dem Vorbild der Natur konstruieren

Das alte Schillerwort in „Würde der Frauen” habe ich als junger Mann nie so recht verstanden:

Feindlich ist des Mannes Streben,
Mit zermalmender Gewalt
Geht der Wilde durch das Leben,
Ohne Rast und Aufenthalt.
Was er schuf, zerstört er wieder,
Nimmer ruht der Wünsche Streit,
Nimmer wie das Haupt der Hyder
Ewig fällt und sich erneut.

Heute weiß ich, dass genau dies der Fortschritt ist. Das merkten auch bald unsere mehrfach preisgekrönten Computermethoden CAO und SKO, die wir durch computerfreie Denkwerkwerkzeuge ersetzten, wodurch auch kleinste Unternehmen in die Lage versetzt werden, nach dem Vorbild der Natur zu konstruieren.

Die Universalkontur der Zugdreiecke, der CAO-Nachfolger

Der zugseitige Wurzelanlauf, also der Übergang vom Baumstamm in die Zugwurzel, erodierte Steilküsten, gelenknahe Knochenverbreiterungen, der schmusige Bachkiesel, Fischköpfe, Bergkuppen und das menschliche Auge... Zugdreieckskonturen, wohin das Auge schaut.

Schnell fand diese Kerbe ihren Weg als kerbspannungsarme Kerbform in die Herzen der wackeren Konstrukteure, die auch wissen dass man sie nie falsch herum platzieren sollte. In mehreren Doktorarbeiten und vielen Schwingversuchen verifiziert fand sie auch Eingang in die Norm DIN ISO 18459. Viele nicht formoptimierte Kerben nehmen unter Zugbelastung die Kontur der Zugdreiecke an: Optimierung durch Verformung!

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Die Kraftkegelmethode als SKO-Erbe

Einige frühere Mitarbeiter hielten es für eine sanfte Erscheinungsform von Größenwahn, eine Topologieoptimierung ohne Computer zu wollen, aber nach einem mit immer neuen Zeichnungen verbrachten Weihnachtsfest hatten wir sie am Barte: die Kraftkegelmethode!

Die Idee ist, dass jede Kraft vor sich her einen verdichteten Druckkegel schiebt und einen ausgedünnten Zugkegel hinter sich her zieht. Man gibt nun einen unendlichen Designraum vor mit den gewünschten Lastbedingungen und verbindet die Kegel entsprechend der Methode miteinander. Dabei wird der eigentlich lasttragende Bereich aus einem unendlichen Designraum herausgeschnitten.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit der Kraftkegelmethode ist die Vorhersage von Rissverläufen und auch der Form plastischer Fließzonen - alles ohne Computer!

Auch Wirbel im festen Körper, also geschlossene Schleifen von Verschiebungsfeldern, lassen sich mit den Kraftkegeln verstehen und lokalisieren und finden sich ähnlich oft auch in bewegten Fluiden und als Raucherwirbel in Gasen.

Lieber Rollen als Reiben oder Scheren: Die Tribologen werden sich freuen zu hören, das unter jeder mit Reibkraft belasteten Fläche ein heimlicher Wirbel das Schlimmste zu verhindern sucht.

Diese neue computerfreie Volksmechanik ist zusammengefasst in der Enzyklopädie der Formfindung nach der Natur „Die Körpersprache der Bauteile“, die auch eine Anleitung zum verstehenden Sehen ist [7].

Danksagung

All diese Erkenntnisse wurden erst möglich durch den verifizierenden Bienenfleiß meiner Mitarbeiter, denen ich mit der folgenden Abbildung danke und denen ich in meinen Büchern ein Denkmal gesetzt habe [4].

Dank an die Mitarbeiter.
Dank an die Mitarbeiter.
(Bild: C. Mattheck)

Das Seminarbüro Erika Koch aus Stuttgart richtet ebenfalls seit circa 30 Jahren Seminare für mich aus, deren Markenzeichen liebevolle persönliche Betreuung ist.

Weitere Infos zu den Seminaren von Prof. Mattheck.
Die Zeitschrift „Konstruktionspraxis“ ist seit vielen Jahren unser treuer Partner und hat uns ermöglicht, neue Erkenntnisse zeitnahe und in heiterem Stil zu veröffentlichen. Danke und dieser Zeitschrift alles Gute zum Wohle der Ingenieure und Konstrukteure, die die Zukunft unseres Volkes sind.

Literatur

[1] C. Mattheck (1988) Warum sie wachsen, wie sie wachsen – Die Mechanik der Bäume, Forschungsbericht KFK-4486, Kernforschungszentrum Karlsruhe
[2] C. Mattheck (1991) Trees – The Mechanical Design, Springer-Verlag Berlin
[3] C. Mattheck (2010) Stupsi erklärt den Baum – Ein Igel lehrt die Körpersprache der Bäume, Karlsruher Institut für Technologie
[4] C. Mattheck, K. Bethge, K. Weber (2014) Die Körpersprache der Bäume - Enzyklopädie des Visual Tree Assessment, Karlsruher Institut für Technologie
[5] C. Mattheck (1990) Engineering Components Grow Like Trees, Mat.-wiss. u. Werkstofftech. 21, 143-168
[6] C. Mattheck (1998) Design in Nature, Learning from Trees, Springer-Verlag Berlin
[7]C. Mattheck (2017) Die Körpersprache der Bauteile - Enzyklopädie der Formfindung nach der Natur, Karlsruher Institut für Technologie

* Prof. Dr. Claus Mattheck, KIT Karlsruher Institut für Technologie, Institut für Angewandte Materialien, Postfach 3640, D- 76021 Karlsruhe

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