Definition Was ist eigentlich Systems Engineering?

| Aktualisiert am 28.10.2021Redakteur: Dipl.-Ing. (FH) Monika Zwettler

Intelligente technische Systeme und Produkte erfordern neue Ansätze in der Entwicklung – die Methode Systems Engineering scheint ein geeigneter Lösungsansatz zu sein. Wie das funktioniert.

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Systems Engineering ist disziplinübergreifend - der Schwerpunkt liegt auf den Denkweisen, Methoden und Vorgehensweisen zur Verknüpfung aller Aktivitäten in einem Projekt. Wissen ist wichtig, aber nicht in der Tiefe eines Fachingenieurs.
Systems Engineering ist disziplinübergreifend - der Schwerpunkt liegt auf den Denkweisen, Methoden und Vorgehensweisen zur Verknüpfung aller Aktivitäten in einem Projekt. Wissen ist wichtig, aber nicht in der Tiefe eines Fachingenieurs.
(Bild: ©alotofpeople - stock.adobe.com)

Die Entwicklungsmethode Systems Engineering (SE) ist nicht neu; vielmehr hat sich SE bereits seit Jahrzehnten dort etabliert, wo komplexe Zusammenhänge vorherrschen oder auch sicherheitskritische Aspekte einen Einfluss haben und Menschenleben in Gefahr sind – Paradebeispiel ist die Luft- und Raumfahrt: Hohe Kosten, das Risiko für Leib und Leben und die unvorhersehbare Operationsumgebung stellen höchste Anforderungen an die Entwicklungsmethoden und die Entwicklerinnen und Entwickler hinter den Missionen.

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Definitionen: Von der Systemanalyse bis zur Testphase

Das Verständnis von Systems Engineering ist sehr facettenreich, was sich in einer relativ großen Anzahl von Definitionen äußert. Hier einige gängige Definitionen:

Das International Council on Systems Engineering (INCOSE) beschreibt Systems Engineering folgendermaßen:

Systems Engineering ist ein interdisziplinärer Ansatz und ein Mittel, die Verwirklichung erfolgreicher Systeme zu ermöglichen. Der Ansatz zielt darauf, Kundenbedürfnisse und die notwendige Funktionalität früh im Entwicklungsprozess zu definieren, die Anforderungen zu dokumentieren und dann unter Berücksichtigung des Problems in seiner Gesamtheit mit dem Systementwurf und der Abstimmung mit dem Kunden fortzufahren. Systems Engineering betrachtet sowohl die wirtschaftlichen als auch die technischen Bedürfnisse des Kunden, mit dem Ziel, ein qualitativ hochwertiges Produkt zu erzeugen, das den Bedürfnissen der Nutzer gerecht wird..

Die Deutsche Gesellschaft für Systems Engineering (GfSE) definiert Systems Engineering als eine umfassende Ingenieurtätigkeit, die zur effizienten und bewusst gestalteten Entwicklung komplexer Produkte notwendig ist. Die Aufgaben umfassen Systemanalyse, Anforderungsermittlung, Systementwicklung, Absicherung und Testphase.

Neben dem International Council on Systems Engineering befassen sich auch ISO-Gremien mit der Standardisierung und Normierung des Systems Engineering. Aus dieser Arbeit heraus hat sich die Richtlinie „ISO/IEC 15288: Systems and software engineering – System life cycle processes“ entwickelt. Diese beschreibt vier Prozess-Gruppen inklusive entsprechender Terminologie für den Lebenszyklus von technischen Systemen. Für jede Gruppe werden die für Systems Engineers relevanten Prozesse detailliert dargestellt.

Im deutschsprachigen Raum dient vor allem die VDI-Richtlinie 2206 „Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme“ als etablierter Standard zur Orientierung.

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Von Kopf bis Fuß: das SE-Männchen

Über die zentralen Aufgaben in der Produktentwicklung hinaus berücksichtigt SE die wechselseitigen Abhängigkeiten dieser Tätigkeiten bis hin in das sozioökonomische Umfeld einer gesamten Branche. Systems Engineering lebt von der Durchgängigkeit über die Idee bis zum End of Life des Produkts. Diese Durchgängigkeit startet in den Köpfen der Mitarbeiter. Für ein besseres Verständnis hat der österreichische Wirtschafts- und Organisationswissenschaftler Professor Reinhard Haberfellner (* 11. Mai 1942 in Kirchberg am Walde, Niederösterreich; † 14. Januar 2020) die komplexen Zusammenhänge mit seinem Systems Engineering-Männchen visualisiert.

  • Im Kopf sind die normativen Aspekte des SE verankert: Die SE-Philosophie gliedert sich in das Systemdenken und die Vorgehensweisen im Systems Engineering. Ziel des Systemdenkens ist die Gestaltung des Systems unter der jeweils relevanten Perspektive im Sinne der Zweckorientierung. Ebenso müssen in der Entwicklung alle Phasen des Lebenszyklus´ vorausgedacht und Anforderungen an das Produkt abgeleitet werden. Das Verständnis „System“ hat also unterschiedliche Ausprägungen. Die Vorgehensweisen orientieren sich an den Grundgedanken Top-Down, Denken in Varianten, Phasenablauf und Problemlösungszyklus.
  • Die Füße geben dem Männchen festen Stand: Hier sind die Werkzeuge der Systemgestaltung und des Projektmanagements verankert. Dabei kommen heute immer mehr MBSE-Werkzeuge zum Einsatz, die von den Kundenbedürfnissen ausgehend eine ganzheitliche Systemspezifikation ermöglichen und erst dann in die fachdisziplinspezifischen Werkzeuge übergehen. Das zweite Standbein des Männchens unterstreicht den Zusammenhang zwischen Technik und Projektmanagement: Eine erfolgreiche Systemgestaltung ist nur durch ein abgestimmtes Projekt- und Entwicklungsmanagement möglich.
  • Der Rumpf ist das Verbindungselement: Durch das Zusammenspiel von Kopf und Füßen wird das Projekt strukturiert durchlaufen, eine Idee in eine Lösung überführt. Der Kopf gibt die Richtung vor, die Füße tragen zum Ziel – in der Mitte steht der Prozess des Anwenders. Denn man muss etwas anpacken, um Systems Engineering erfolgreich einzusetzen.

Das SE-Männchen von Prof. Haberfellner.
Das SE-Männchen von Prof. Haberfellner.
(Bild: Two Pillars GmbH)

Aufgaben und Methoden des Systems Engineering

Die Aufgaben umfassen Systemanalyse, Anforderungsermittlung, Systementwicklung, Absicherung und Testphase. Ziel ist, die zahlreichen Funktionen unterschiedlicher Disziplinen in einem komplexen System möglichst modellbasiert zu beschreiben und mit vielen integrierten Projektbeteiligten auf nur einer Plattform zeitgleich zu bearbeiten. Dafür können verschiedene Ansätze angewendet werden, beispielsweise das Model-Based Systems-Engineering (MBSE).

Die Aufgaben im Überblick:

  • Definition und Planung der Systems-Engineering-Aufgaben
  • Anforderungsanalyse, Anforderungsdefinition und Anforderungsmanagement
  • Systemdesignoptimierung (Modellbildung, Simulation und Bewertung)
  • Systemdokumentation
  • Konfigurationskontrolle/Änderungswesen
  • Systemintegration
  • Systemverifikation und -validation
  • Risikomanagement
  • Produkt- und Qualitätssicherung.
Systems Engineering stärkt nicht nur die Effizienz in der Entwicklungsarbeit, sondern insbesondere auch ihre Effektivität: Das senkt einerseits die Lebenszykluskosten des Produktprogramms, andererseits stärkt es die Innovationskompetenz von Unternehmen.

Dr. Christian Tschirner, SE-Experte und Geschäftsführer Two Pillars GmbH

SE im Weltraum: Software rettet die Mondlandung

Juli 1969: Über 500 Millionen Fernsehzuschauer weltweit verfolgen die erste bemannte Mondlandung unserer Geschichte. Was im Hintergrund geschieht, ist dramatisch. Beim Landeanflug der Mondlandefähre meldet der Bordcomputer wiederholt Fehler im Navigationssystem (Apollo Guidance Computer, AGC). Die Überlastung des AGC durch eine parallele Datenverarbeitung zweier Radarsysteme führt fast zum Abbruch. Aber nur fast, denn durch eine kluge Entwicklung, die ihrer Zeit voraus ist, ist das AGC mit einer Reihe von Sicherungssystemen ausgestattet, die den Abbruch verhindern.
Die Entwicklung des AGC stellt einen Meilenstein sowohl für die Raumfahrt als auch für die zugrundeliegende Entwicklungsmethodik dar: Denn der AGC war der erste Rechner mit einem Echtzeit-Betriebssystem in einer sicherheitskritischen Anwendung und markierte zugleich den Einstieg in die Fly-By-Wire-Technologie. Das Betriebssystem hatte eine Prioritätenliste für einzelne Programme. Um Totalabstürze zu vermeiden, konnte es Fehler erkennen, sich automatisch neustarten und die entsprechenden Tasks weiterverarbeiten.
Die NASA und ihr Partner, das MIT, wurden durch die Entwicklung des AGC zu Pionieren im Systems Engineering. Programme konnten damals nur unzureichend per Softwaresimulation überprüft werden. Deshalb entwickelte die Software-Ingenieurin Margaret Hamilton das Paradigma „Development Before The Fact“ aus dem die Universal Systems Language hervorging. Die Sprache basiert auf der Systemtheorie und eignet sich zur formalen und pragmatischen Modellierung softwareintensiver Systeme.

Mehr Infos dazu in unserem Artikel.

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