Augmented Reality Next Level in der Prototypenentwicklung
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Vier Münchner Studenten haben ein adaptives Heckflügelsystem für Hochleistungsfahrzeuge entwickelt. Mit Augmented Reality konnten sie verschiedene Heckflügelvarianten bereits digital in der Prototypenentwicklung auf Herz und Nieren testen.

Optimale Aerodynamik für höhere Geschwindigkeiten und eine bessere Kurvenlage: Um einen Heckflügel möglichst effizient und effektiv zu gestalten, sind in der Automobilbranche enorme Entwicklungsvorgänge notwendig. „Wir haben zu dem damaligen Zeitpunkt über ein neues Hochleistungsfahrzeug diskutiert und festgestellt, dass Heckflügel noch immer starr ausgeführt werden und somit Potenziale in der Fahrzeugperformance ungenutzt bleiben, da die situative Anpassung ausbleibt“, erinnert sich Andreas Weber, Projektleiter bei Eaglewing. Diese Gedankengänge führten die vier Studenten Andreas Weber, Christian Schlamp, Ali Taghizadegan und Johannes Schuhbauer im Projekt Eaglewing dazu, ein Heckflügelsystem zu entwickeln, welches sich optisch nicht auf Anhieb von konventionellen Heckflügeln unterscheidet. „Jedoch die Funktionalitäten einer Air-Brake, eines DRS (Drag- Reduction-Systems) sowie des Aero-Vectorings in sich vereint“, erklärt Weber.
Ein Heckflügel für jede Gelegenheit
Ziel der Jungingenieure war es, einen Heckflügel mit spürbarem Einfluss auf das Fahrzeugverhalten zu entwickeln. Mit seiner Anpassungsfähigkeit kann er so die Abtriebskräfte in jeder auftretenden Fahrsituation optimal einstellen – ein Heckflügel also für jede Gelegenheit. Dabei wird der Abtrieb eines Flügels durch seine geometrische Beschaffenheit, dem Anstellwinkel und der Anströmgeschwindigkeit generiert. In Konflikt stehen dabei stets der horizontale wirkende Luftwiderstand (Ziel: minimal) mit der vertikal nach unten gerichteten Abtriebskraft (Ziel: maximal).
Räumliches Verständnis des gesamten Moduls fehlt
Doch wie sind die vier Studenten an diese Herausforderung herangegangen? Angefangen hat alles auf einem weißen Blatt Papier. Hier bestand zunächst die abstrakte Vorstellung eines tordier- und biegbaren Flügels. „Wir identifizierten relevante Fahrsituationen, etwa Kurvenfahrten und Bremsvorgänge. Darauf folgten Untersuchungen, die die möglichen Flügelgeometrien anforderungsmäßig auf sinnhafte Konfigurationen reduzierte“, erzählt Johannes Schuhbauer, im Projekt verantwortlich für Simulationen. Mit gängigen CAD-Programmen und ersten CFD-Simulationen konnten dann diese den entsprechenden Fahrsituationen zugeordnet werden und die Geometrie iterativ aus Simulationsdaten generiert werden. „Im weiteren Projektverlauf folgte die Ausgestaltung der Funktionalitäten und Komponenten gemäß den auftretenden Belastungen“, führt Schuhbauer weiter aus. Zum Ende der Entwicklungsphase wurden Einzelkomponenten optimiert und in einen finalen Konstruktionsstand zusammengefasst. „Was uns gefehlt hat, ist ein räumliches Verständnis des gesamten Moduls. Auch die in Zeiten von Corona meist virtuell stattfindende Abstimmung zu einem komplexen CAD-Modell in Online-Konferenzen war durchaus eine Herausforderung.“
AR-Software ermöglicht Blick auf Entwicklung in Realgröße
Auf der Suche nach Lösungen wurden die vier Studenten auf das Münchner Unternehmen Holo-Light aufmerksam. Mit AR3S, dem Augmented Reality Engineering Space, hat Holo-Light ein immersives Arbeits- und Kommunikationstool für Ingenieure entwickelt, das bei globalen Automobilherstellern wie BMW bereits in der Prototypenentwicklung eingesetzt wird. Mit AR Software lassen sich 3D-CAD-Daten als Hologramme in realer Umgebung visualisieren und kollaborativ bearbeiten. „Wir hatten lediglich ein eingeschränktes Gefühl für das System, etwa hinsichtlich der realen Bauteildimensionen oder der Verstellwege der Aktorik, da dieses ausschließlich als maßstabsgetreues CAD-Modell auf einem 2D-Bildschirm zu betrachten war“, erinnert sich Weber. Mit AR3S konnten die Studenten erstmals ihre Entwicklung in Realgröße betrachten. „Hier sind uns auch sofort Komponenten aufgefallen, die wir noch anpassen mussten,“ sagt Christian Schlamp, Konstruktionsverantwortlicher beim Projekt Eaglewing.
Intensiveres Bewusstsein für das Produkt ausbilden
So überlagerten die Studenten ihr virtuelles Heckflügel-Modell mit einer realen Karosserie. Das Ergebnis: ein besseres Verständnis des Bauteils in der Fahrzeugperipherie, als es auf einem 2D-Bildschirm möglich wäre. „Insbesondere in unserem Anwendungsfall war die Darstellung verschiedener Heckflügelvarianten und -konfigurationen, ohne diese vorab physisch realisieren zu müssen, ein elementarer Mehrwert“, fasst Andreas Weber die Vorteile zusammen. Besonders in einem solchen frühen Stadium seien sowohl die Einsparung von Geld, Zeit und Material als auch die Handlungsfähigkeit trotz fehlender Ressourcen, wie fehlende Fahrzeuge, bedeutende Vorteile. „Des Weiteren können sich bei neuen Konzepten ein intensiveres Bewusstsein für das Produkt weit vor dessen Herstellung ausbilden sowie eine Fehlerprävention bei der Bauteilintegration in eine bereits existierende Peripherie oder in der Montage im späteren Produktionsprozess“, so Weber weiter.
Der nächste Schritt für Eaglewing ist die physische Realisierung und Inbetriebnahme eines Prototypen, um weitere Optimierungspotentiale zu identifizieren sowie auch neue Erkenntnisse und Erfahrungen hinsichtlich Fertigung und Montage zu sammeln. In der Prototypenwerkstatt der TU München, dem Maker Space, können sie die Vorteile der Augmented Reality nun testen. „Bei uns müssen die Einzelkomponenten im ersten Versuch in der Realität funktionieren. Mehrere Iterationen können wir uns nicht leisten“, betont Johannes Schuhbauer.
Der Weg zur Serie zum Greifen nah
Bereits im Mai letzten Jahres haben die vier Jungingenieure ihr adaptives Heckflügelsystem zum Patent angemeldet. Um einen realen Fahrzeugeinsatz des Systems zu ermöglichen, sind aber noch fortschreitende Entwicklungen und Untersuchungen notwendig. Ist die Entwicklung für ein spezifisches Fahrzeugmodell dann weiter fortgeschritten, soll das System auf einem Erprobungsfahrzeug appliziert werden, um seine Wirksamkeit unter Realbedingungen nachzuweisen. Erste simulative Untersuchungen haben bereits die Wirksamkeit des Heckflügels gezeigt.
Aus einer Anströmgeschwindigkeit von 120 km/h und Anstellwinkeln im Bereich von +15 bis –10 Grad ergaben sich gegenüber der Normalstellung mit konstantem Anstellwinkel von 0 Grad eine Erhöhung des Abtriebs um bis zu 50 Prozent auf der fiktiv kurveninneren Seite als auch eine entsprechende Entlastung auf der kurvenäußeren Seite.
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