Systems Engineering Entwicklungsmethode mit Zukunft: Systems Engineering

Autor / Redakteur: Georg Hünnemeyer* / Ute Drescher

Beim Systems Engineering steht der Systemansatz im Vordergrund, ähnlich wie beim Hausbau: Eine durchdachte Architektur kommt ohne einen nachträglichen An- oder Umbau aus.

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(Bild: ©vege - stock.adobe.com)

Moderne Produktentwicklung verlangt Unternehmen viel ab. Verlässlich und möglichst exakt soll geplant werden. Für die gleichzeitig agile und flexible Fertigung bis zur Losgröße eins haben sich zwei Ansätze herauskristallisiert: agile Entwicklung und Systems Engineering. Doch anstatt um schrittweisen Aufbau wie in der agilen Entwicklung geht es beim Systems Engineering um die Integration einzelner Schritte in das Gesamtsystem. Stetige, aufeinander aufbauende Spezifikationen mit wachsender Detaillierung geben Ingenieuren die Sicherheit, permanent Anpassungen vornehmen zu können – sie ermöglichen damit bei kontinuierlicher Abstimmung mit dem Entwicklungsziel eine stabile Flexibilität. Denn bevor mit der eigentlichen Entwicklung begonnen wird, steht der Systemansatz, der den kompletten Kontext eines Produkts und damit des Systems erfasst. Vergleichen lässt sich dieses Vorgehen mit dem Hausbau: Eine durchdachte Architektur kommt ohne einen nachträglichen An- oder Umbau und erhebliche Mehrkosten aus.

In der Praxis gibt der Projektleiter meist zu Beginn der Entwicklungsphase Aufgaben an die jeweiligen Fachleute weiter. Beim Praxisbeispiel, der Planung und Entwicklung einer Windturbine, kam es bei zahlreichen Entwicklungsneustarts durch stetige neue Forderungen je Fachdisziplin zu Fehlern in Design und Bau. Durch Hinzuziehung der Systems-Engineering-Methoden schrieben Verantwortliche zunächst alle Anforderungen etwa an Performance, Wartung und Service, funktionale Sicherheit, gesetzliche und wirtschaftliche Anforderungen fest, spätere Anforderungen verschoben sie in den Backlog. So entwickelte sich ein Gesamtverständnis aller Beteiligten für Kontext und Entwicklungsziel.

Verantwortungsbereiche klar aufteilen

Durch eine Festlegung der funktionalen Architektur teilten sich die Aufgaben und Verantwortungsbereiche, wie etwa Konvertierung von Windenergie in Rotationsenergie oder Steuerung und Datenübermittlung, klar auf. Die Herausstellung und selbstständige Koordination der Funktionsschnittstellen erzwang eine Zusammenarbeit der Disziplinen, die zur Erstellung einer Funktion, etwa in Elektrotechnik, Regelung oder Konstruktion gebraucht werden. Denn beim Systems Engineering steht die Integration der Fähigkeiten von Ingenieursdisziplinen zur Bereitstellung einer Funktion im Vordergrund. Abschließende Reviews überprüften deren Abstimmung sowie das Erreichen des jeweiligen Entwicklungsziels.

In den Reviews wurden die Anforderungen an Teilsysteme unter Berücksichtigung des gesamten Lebenszyklus aufgebrochen und validiert. Durch Systems Engineering erhielt im nachfolgenden Auftrag an Lieferanten jeder eine vollständige Spezifikation. Diese First-Time-Right-Spezifikation verhindert langfristig ungeplante Mehrkosten. So ließ sich die Integration in das Gesamtsystem schon zu Konstruktionszeiten sicherstellen. Mittels ständiger Überprüfung der Funktions- und Systemschnittstellen wurde sichergestellt, dass die Einzelfunktionalitäten und Systeme immer in die Architektur passen. Das Konfigurationsmanagement ermöglichte jederzeit die Verfolgung der Entwicklungsergebnisse gegen die Sprint-Definition – deshalb bleiben Unternehmen mit Systems Engineering stets agil. Mikromanagement erlaubte die parallele Entwicklung mehrerer Sprints, sodass der funktionale Zuwachs, wie in der agilen Entwicklung propagiert, in kurzen Abständen erfolgte.

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Umfang ohne Änderungen erweitern

Bei allen Architekturentscheidungen fanden also zusätzliche Leistungsanforderungen schon im Ansatz Berücksichtigung. Ohne vorhandenes Design zu ändern, konnte so der Leistungsumfang gesteigert werden. Die Prozesse bauten zwar aufeinander auf, liefen jedoch parallel ab. Für das Basismodel plante man mit einem Sprint von zweieinhalb Jahren, die parallel laufenden Erweiterungen wurden mit Sprints mit einer Dauer von wenigen Wochen implementiert. Die Grundlage hierfür bilden ein konsequentes Requirements-based-Engineering sowie Model-based-Engineering mit klar definierten Zwischenergebnissen, sodass Erweiterungssprints schon beginnen, wenn die Ergebnisse der Basisentwicklung auf Zwischenschriften festgehalten werden. Systems-Engineering-Methoden brachten so bei der Windturbinenentwicklung eine Zeitersparnis von 50 %. Ein konsequenter Top-down-Ansatz sorgte für Abschätzbarkeit und Erkennung der Auswirkungen von Erweiterungen auf schon vorhandene Arbeitsergebnisse.

Wie im Praxisbeispiel erläutert, bestimmt Systems Engineering als domänenübergreifendes Vorgehen neben der Technologie auch das gesamte soziotechnische System. Die „Plattform Industrie 4.0“, ein Zusammenschluss von Experten aus Unternehmen, Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften, empfiehlt deshalb bei der Bewältigung der vierten industriellen Revolution die Anwendung von Systems Engineering über die gesamte fachdisziplinübergreifende Wertschöpfungskette eines Produkts. Systems Engineering befasst sich, wie im Beispiel dargelegt, interdisziplinär genau mit diesen komplexen und interaktiven Produkten und Dienstleistungen. Entwicklungsprozesse werden als ganzheitlich und durchgängig verstanden und ausgeführt.

Alle Dispziplinen einbeziehen

Staatlich geförderte Projekte wie die „Plattform Industrie 4.0“ sorgen dafür, dass Systems Engineering nicht nur in Großprojekten wie der Windturbinenentwicklung, sondern auch in den stark variierenden Projektgrößen des Mittelstands Anwendung findet. Denn insbesondere bei KMUs herrscht Zurückhaltung, wo längst Handlungsbedarf besteht. Laut dem aktuellen Deutschen Industrie 4.0 Index fehlt vor allem bei den Führungskräften noch das nötige Wissen, um der digitalen Transformation in der deutschen Industrie aufgeschlossen, kompetent und mit der nötigen Flexibilität zu begegnen. Doch mit Systems Engineering können durch die permanente Validierung der Entwicklungsschritte gegen das Entwicklungsziel alle Disziplinen einbezogen und Fehler von vorneherein vermieden werden. Schließlich reicht die von Industrieunternehmen verlangte Flexibilität durch den Trend zu individualisierten Produkten bis zur Losgröße eins. Agile, einheitliche Methoden scheinen dabei trotzdem noch Mangelware zu sein. Hier kann ein externer Berater Abhilfe schaffen, der die Vorgehensweise als Teil des Teams kleinschrittig vorlebt. Wer jetzt die Weichen stellt, profitiert in Zukunft von Produktionsabläufen, die sich jederzeit an die jeweiligen Anforderungen anpassen lassen. (ud)

* Georg Hünnemeyer ist Geschäftsführer der Hünnemeyer Engineering Consulting

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