Getriebe Wie man einzigartige Getriebe entwickelt

Autor / Redakteur: Maria Hergesell / Stefanie Michel

Wenn kein Kataloggetriebe die Anforderungen mehr erfüllen kann, müssen gemeinsam mit dem Kunden Sondergetriebe entwickelt werden. Dafür ist nicht nur das Know-how nötig. Doch ebenso wichtig ist es, die Herstellbarkeit nicht aus den Augen zu verlieren.

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Zur Entwicklung und Herstellung von High-Speed-Getrieben in kundenspezifischer Ausführung ist eine umfassende Expertise hinsichtlich Verzahnung, Werkstoffen und auch Herstellbarkeit nötig.
Zur Entwicklung und Herstellung von High-Speed-Getrieben in kundenspezifischer Ausführung ist eine umfassende Expertise hinsichtlich Verzahnung, Werkstoffen und auch Herstellbarkeit nötig.
(Bild: Wittenstein)

Getriebe mit Drehzahlen von bis zu 50.000 oder sogar 100.000 Umdrehungen pro Minute bewegen sich hinsichtlich Schmierung, Lagerung, Betriebstemperatur und Wellendynamik in Grenzbereichen. Daher erfordern derartige High-Speed-Getriebe bezüglich der Auslegung höchste Entwicklungs- und Fertigungskompetenz. Wittenstein Bastian besitzt diese Expertise und nutzt sie erfolgreich, beispielsweise für Energierückgewinnungssysteme, im Rennsport oder bei angetriebenen Werkzeugen. Auch für High-Torque- oder Low-Noise-Anwendungen wurden bei Wittenstein Bastian bereits Getriebe auf Kundenwunsch entwickelt und gefertigt.

Eine typische High-Speed-Getriebeanwendung ist zum Beispiel die Gewinnung von mechanischer oder elektrischer Energie aus einer in heißem Gas laufenden Turbine. Die sehr hohen Drehzahlen von bis zu 100.000 min-1 müssen hier über ein Getriebe reduziert werden, um die mechanische Leistung direkt nutzen zu können oder über einen Generator in Strom zu wandeln. Für derartige Anwendungsbereiche sind handelsübliche Kataloggetriebe vollkommen ungeeignet. Deshalb müssen spezielle Getriebe entwickelt werden, die exakt auf die spezifischen Anforderungen zugeschnitten sind und keine Kompromisslösung für unterschiedliche Anwendungen und Branchen darstellen.

High-Speed-Sondergetriebe: keine Kompromisslösung

Die Entwicklung eines solchen Getriebes beginnt bei Wittenstein Bastian mit der technischen Detailklärung in Zusammenarbeit mit dem Kunden. Dabei sind neben dem technischen Vertrieb auch Vertreter des Engineering-Teams und der Produktion beteiligt. Eine mit dem Kunden abgestimmte Spezifikation bildet die Basis für die Entwicklung. Darin werden insbesondere die Auslegungsziele definiert und priorisiert.

Für Energiegewinnungssysteme ist der Wirkungsgrad des Getriebes von höchster Bedeutung. Zudem ist eine ausreichende Tragfähigkeit zu gewährleisten: Üblich ist in dieser Branche eine Betriebsdauer von mindestens 15 Jahren. Bei den anliegenden Drehzahlen und den damit verbundenen Lastwechselzahlen ist eine lebensdauerfeste Auslegung der meisten Komponenten daher unumgänglich. Bei mobilen Anwendungen ergeben sich zusätzliche Forderungen, wie eine sehr kompakte Bauweise und ein geringes Gewicht. Bei Energierückgewinnungssystemen, die in der Nähe von Personen betrieben werden, ist zudem auf die Geräuschanregung zu achten.

Für Sondergetriebe arbeiten Entwicklung und Fertigung eng zusammen

Die Entwicklung eines Sondergetriebes erfolgt bei Wittenstein Bastian in enger Abstimmung zwischen Engineering-Team und Produktion, die in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander arbeiten. Die Verzahnung von Entwicklung und Fertigung beginnt jedoch schon innerhalb der Engineering-Abteilung. Diese besteht aus 10 Ingenieuren, die ihren Ausrichtungsschwerpunkt in einem der folgenden drei Bereiche haben: Konstruktion von Getrieben, Berechnung von Stirnrädern, Kegelrädern und weiteren Maschinenelementen oder spanende Fertigungstechnologien und Wärmebehandlung. Durch die Mitarbeit der Teammitglieder in Forschungsverbänden und die Zusammenarbeit mit Universitäten wird das Fachwissen stetig erweitert.

Drehzahl stellt besondere Anforderungen an Werkstoff, Lager und Verzahnung

Bei der Konzeption eines High-Speed-Getriebes stellt die hohe Drehzahl besondere Anforderungen an die Auswahl von Verzahnung, Werkstoff und Lager. Nach dieser Phase werden die Maschinenelemente dimensioniert. Hierbei werden klassische Maschinenelemente wie Wellen, Welle-Nabe-Verbindungen oder Lager nach gängigen analytischen oder numerischen Methoden ausgelegt. Um Stirn- und Kegelräder hinsichtlich Tragfähigkeit, Wirkungsgrad und Ge­räuschanregung zu optimieren, sind langjährige Erfahrungen und fundiertes Grundlagenwissen über Verzahnungskorrekturen nötig. Die Berechnung der Verzahnung erfolgt mithilfe von kommerziellen Programmen wie Kisssoft, FVA-Workbench, Bearinx oder Ansys. Eigene Lösungswege zur Erarbeitung optimaler Designs werden darüber hinaus auch in selbstgeschriebener Software umgesetzt. Für die Bestimmung der optimalen Verzahnungskorrekturen des High-Speed-Getriebes werden automatisierte Massenrechnungen verschiedener Korrekturvarianten unter Berücksichtigung von Wellen- und Gehäuseverformungen sowie Lagerspielen berechnet und über einen Filter-Algorithmus hinsichtlich Tragfähigkeit, Geräuschanregung und Toleranzempfindlichkeit bewertet. So können bei vergleichbaren Aufgabenstellungen schon Geräuschverbesserungen von über 10 dB an existierenden Getrieben erzielt werden.

Das 3D-Getriebemodell als Schnittpunkt zur Produktion

Über das 3D-CAD-System NX von Siemens werden die Bauteile modelliert. Aus den virtuellen Modellen der Getriebe lassen sich dann in Zusammenarbeit mit Produktion und Qualitätssicherung fertigungsgerechte Zeichnungen ableiten. Die 3D-Modelle können zudem über die CAD-CAM-Schnittstelle in die Produktionsvorbereitung einfließen und Aufwände sowie Fehlerquellen reduzieren. Durch diese Möglichkeiten werden die Aluminium-Gehäuseteile der ersten Prototypen des Getriebes ohne die zeitintensive Ableitung von detaillierten Fertigungszeichnungen in einem Arbeitsgang aus dem Vollen gefräst.

Bei der Entwicklung steht von Anfang an die zukünftige Fertigung und Montage im Mittelpunkt. Die Anwendung von Konstruktionsprinzipien wie Poka Yoke ist dabei selbstverständlich, um spätere Fehlermöglichkeiten in der Montage auszuschließen. Die zulässigen Fertigungstoleranzen sowie die notwendigen Anlage- und Spannflächen werden gemeinsam mit der Produktion definiert. So sind bei High-Speed-Getrieben aufgrund der hohen dynamischen Zusatzkräfte nur geringe Rundlaufabweichungen zulässig. Zum Teil müssen die Wellen zusätzlich im montierten Zustand gewuchtet werden. Bei der Auslegung und Fertigung von Prototypen wird, soweit möglich, auf vorhandene Werkzeuge und Spannmittel zurückgegriffen, um die mitunter hohen Lieferzeiten von 8-16 Wochen zu umgehen. Erfordert die Konstruktion zwingend gesonderte Verzahnungsgeometrien, kommen die flexibelsten Fertigungsverfahren, wie das Profilschleifen aus dem Vollen oder das Wälzschleifen mit zeilenweisem Abrichten für die Fertigbearbeitung, das Drahterodieren für Vor- und Fertigbearbeitung oder die 5-Achs-Fräsbearbeitung, zum Einsatz. Dabei müssen die fertigungsbedingten Besonderheiten, wie beispielsweise Verschränkungen und deren Richtung berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass die Versuchsergebnissen in die Serie übertragbar sind.

Hohe Fertigungskompetenz für Getriebe im Werk Fellbach

Gefertigt werden die Getriebe im Werk Fellbach, das alle Bearbeitungsschritte unter einem Dach vereint. Neben den spanenden Verfahren ist auch eine hauseigene Wärmebehandlung vor Ort.

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Urbane Produktion
Fertigen im städtischen Umfeld

Das Werk Fellbach von Wittenstein Bastian, das bereits vielfach als „Urbane Produktion der Zukunft“ ausgezeichnet wurde, fügt sich harmonisch in das städtische Umfeld im Herzen Fellbachs ein. Weder hört noch sieht man von außen, dass in dieser klimatisierten Produktion auf Präzisionsmaschinen pro Jahr über 1,4 Millionen Zahnräder gefertigt und etwa 5000 Getriebe montiert werden.

Dabei sind alle Bearbeitungsschritte intern möglich: Drehen/ Fräsen, Hartdrehen, Rundschleifen, Verzahnungsfräsen, Verzahnungsstoßen, Verzahnungsschleifen (Wälz- und Profilschleifen) oder Fügen. Neben den spanenden Verfahren ist auch die hauseigene Wärmebehandlung, in der Zahnräder vergütet, einsatzgehärtet und tiefgekühlt werden können, ein Kernprozess. So bietet Wittenstein hier exzellente Engineering- und Fertigungsmöglichkeiten unter einem Dach – von der Idee bis zur Serie.

Jede Charge wird nach der Wärmebehandlung von erfahrenen Mitarbeitern im eigenen Materialprüflabor hinsichtlich ihrer Qualität untersucht. Dies umfasst – neben der Prüfung der Materialzusammensetzung, der Oberflächenhärte und des Härtetiefenverlaufs – auf Wunsch auch die optische Analyse des Gefüges anhand eines geätzten Schliffes. Um diese Fertigungskompetenz nutzen und erweitern zu können, investiert das Unternehmen kontinuierlich in neue, leistungsfähige Maschinen. Zusätzlich verfügt Wittenstein Bastian über ein weites Netz von Wertschöpfungspartnern. Auf diese kann bei Kapazitätsengpässen oder bei intern nicht verfügbaren Fertigungstechnologien, wie Elektronenstrahlschweißen oder Nitrieren, zurückgegriffen werden. Im Messraum der Güteklasse 2 nach VDI/VDE 2627 mit Klingelnberg- und Zeiss-Messmaschinen stellt das Unternehmen sicher, dass die Verzahnungen, Wellen und Gehäuse konstant den höchsten Qualitätsanforderungen entsprechen. Dies wird auf Kundenwunsch auch in einem ausführlichen Erstmusterprüfbericht nachgewiesen. Zur Überprüfung der Funktion des Getriebes existiert ein eigenes zugangsbeschränktes Prüffeld. Hier werden einfache Funktionsprüfungen durchgeführt. Für weiterführende Untersuchungen kann auf ein Netz von Prüfeinrichtungen, zum Beispiel an Universitäten, ausgewichen werden. Diese Ergebnisse sind letztendlich die Basis, um in Zusammenarbeit von Engineering, Produktion und Kunden das Getriebe für den Serieneinsatz zu optimieren.

Know-How und Fertigung der Getriebe unter einem Dach

Die Entwicklung eines kundenspezifischen Sondergetriebes für hohe Leistungsanforderungen oder extreme Einsatzbedingungen setzt tiefgehendes Antriebstechnik-Know-how voraus. Gleichzeitig gilt es, die spätere Herstellbarkeit von Anfang an im Blick zu haben. Dies erweist sich spätestens dann als Vorteil, wenn auf Basis der Zusammenbau- und Fertigungszeichnungen ein erster Prototyp oder eine erste Nullserie gefertigt werden soll. Wittenstein Bastian verfügt über das entsprechende Know-how und exzellente Fertigungsmöglichkeiten. Dabei bietet die Kombination von Engineering und Fertigung unter einem Dach – von der Idee bis zur Serie – zeitliche Vorteile im Entwicklungsprozess. Der Bandbreite von Branchen und Anwendungen sind dabei keinerlei Grenzen gesetzt. MM

* Dr.-Ing. Maria Hergesell ist Leiterin Technologiemanagement bei der Wittenstein Bastian GmbH in 70736 Fellbach

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