Kreislauf So kommt der Autoreifen in den Türgriff
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Altreifen stecken voller wertvoller Rohstoffe, doch noch immer werden sie weltweit verbrannt. Das Unternehmen Pyrum hat mit der Thermolyse eine Technologie entwickelt, die Altreifen nachhaltig recycelt. Mit dem daraus gewonnenen Pyrolyseöl entwickelt BASF neuwertige Kunststoffe, die Mercedes Benz für seine Fahrzeug-Bauteile verwendet – ein geschlossener Werkstoffkreislauf entsteht.

In Europa fallen im Jahr über drei Millionen Tonnen Altreifen an. Bisher wurden diese CO2-intensiv und unwiederbringlich verbrannt. Doch ist das nachhaltig? Schließlich stecken in jedem Reifen wertvolle wie endliche Ressourcen. Der Werkstoffkreislauf ist eine wichtige Maßnahme, um Ressourcen zu schonen. Diesen Gedanken hatte auch Pascal Klein, CEO der Pyrum Innovations AG, bei der Gründung seines Unternehmens 2008. In einer neun Quadratmeter großen Gartenhütte im saarländischen Dillingen reifte in Pascal Klein und seinen drei Freunden die Idee ein perpetuum mobile für den Werkstoffkreislauf zu erfinden. Das Ergebnis: Ein Verfahren, bei dem mittels der Pyrum-Thermolyse aus alten Reifen, Gummiabfällen und Kunststoffen Rohstoffe gewonnen werden. War es 2008 noch eine Pilotanalge im Maßstab 1:3, läuft das Recyclingwerk seit 2020 im industriellen Dauerbetrieb. Im Werk in Dillingen recycelt das Unternehmen in der Woche 130 Tonnen Altreifen.
Pyrolyseanlage versorgt sich selbst mit Strom
Doch welche Technik steckt hinter der Pyrum-Thermolyse? Wie bei der klassischen Pyrolyse werden bei dem Verfahren organische Substanzen genauer gesagt Gummi- und Kunststoffabfälle unter Sauerstoffausschluss thermisch zerlegt. „Der große Unterschied zwischen der Pyrum-Technologie und bisherigen Pyrolyse-Verfahren ist das Reaktordesign“, verrät Pascal Klein. Die Pyrolyseanlage von Pyrum läuft 100 Prozent elektrisch und energieautark, da sie mit Strom aus dem eigenen Blockheizkraftwerk versorgt wird. Die rein elektrische Heizung des Reaktors ermögliche sehr präzise Temperaturprofile, so Klein weiter. Es besteht so auch keine Brand- oder Explosionsgefahr durch Gasbrenner. Eine weitere Besonderheit ist der vertikale Aufbau des Reaktors: Damit bewegen sich die Inputstoffe mithilfe der natürlichen Schwerkraft durch den Reaktor. „Somit werden keine bewegliche Teile benötigt, die die Gefahr erhöhen würden, dass Sauerstoff in den Reaktor eindringt, was wiederum die Temperatur und dadurch die Produktqualität beeinflusst“, erklärt Klein.
Eine Besonderheit des patentierten Verfahrens ist es, dass nach einmaligem Anfahren der Anlage mit Fremdenergie, ausreichend Energie durch das gewonnene Gas erzeugt wird, um einen autarken Betrieb der Anlage zu ermöglichen. Darüber hinaus wird ein Energieüberschuss erzeugt, der als Wärme- oder Elektroenergie weiterverkauft werden kann.
Vom Reifen zum Pyrolyse-Öl in wenigen Schritten
Der Prozess der Thermolyse erfolgt in mehreren Schritten: Zunächst werden die Reifen geschreddert. Der Gewebe- und Stahldraht wird herausgefiltert und beispielsweise als Dämmstoff wieder in den Produktionskreislauf der Industrie zurückgeführt – und das bis zu einem Recyclingsgrad von 98 Prozent.
Der Rest ist ein ganz feines Gummigranulat, welches im nächsten Schritt, dem Pyrolyse-Prozess weiterverarbeitet wird. Hierbei wird das Granulat unter Luftausschluss bei rund 700 ° C gekocht. Es verdampft wie Wassertropfen auf einer Herdplatte und zerfällt in seine Bestandteile: Gas, Koks und Rohöl. Das Gas wird in das Blockheizkraftwerk geleitet. Damit wird der komplette Energiebedarf der Anlage gedeckt. Der Koks wird überwiegend an Reifenhersteller verkauft. Dieser wird vor dem Weiterverkauf noch gemahlen. Damit kann er leichter transportiert werden und die Reifenherstellern können ihn nur so weiterverarbeiten. Aus dem Öl, dem Pyrolyseöl können neue Kunststoffe und Verpackungen hergestellt werden.
2,5 kg Pyrolyseöl und 3,5 kg Carbon aus einem Autoreifen
Ein solches Recyclingverfahren wird immer wichtiger, denn auf dem Weg in eine klimaneutrale Welt, ist es entscheidend, möglichst viele Abfälle in ihren Urzustand zurückzuführen. Pyrum hat hierzu den weltweiten Recyclingmarkt analysiert und ein Volumen von 20 Milliarden Euro ermittelt. Das würde umgerechnet das Potenzial von bis zu 2000 Werken bieten.
Aus einem einzigen Autoreifen gewinnt Pyrum 2,5 Liter Öl und 3,5 kg Carbon. Diese werden dann an Industriekunden verkauft. Der Chemiekonzern BASF war von der Qualität des Pyrolyseöls von Pyrum so überzeugt, das es sich am Unternehmen beteiligt hat. „2019 kam BASF auf Pyrum zu, mit der Absicht das Pyrum-Öl zu testen. Nachdem die ersten Lieferungen erfolgt waren – erst 10 Liter, dann 200 Liter – und die Labortests erfolgreich durchgeführt wurden, kam BASF mit dem Wunsch auf uns zu, die Menge eines LKW zu liefern“, erinnert sich Pascal Klein. Als Pyrum in diesem industriellen Umfang liefern konnte, stieg das Interesse von BASF immens. „Nach zwei weiteren Lieferungen im industriellen Maßstab wurde angefangen, über eine strategische Langzeitpartnerschaft zu verhandeln, die wir dann im Herbst 2020 unterzeichnet haben“, sagt Klein.
Materialica Design + Technology Award 2022

Die Projektpartner Mercedes Benz, BASF, Witte Automotive und Pyrum wurden für den gemeinsam entwickelten Lösungsansatz mit dem Materialica Design + Technology Awards 2022 in der Kategorie Material ausgezeichnet. Von links nach rechts: Georg Stalter (WITTE Automotive), Oliver Geiger (BASF), Eleni Kougioumtzi (Mercedes-Benz AG) und Simon Hoebel (Mercedes-Benz AG)
Pyrolyse-Öl + Biomethan = neuwertiger Kunststoff
BASF setzt das Öl als Rohstoff in seiner Produktion ein, um daraus neue, hochwertige Produkte herzustellen. Zusammen mit Mercedes Benz, Pyrum und Witte Automation hat BASF einen massenbilanzierten Kunststoff hergestellt, der in den Bügeltürgriffen im EQE eingesetzt wird. Hierfür kombiniert der Chemiekonzern das Pyrolyse-Öl von Pyrum mit Biomethan aus Abfällen der Landwirtschaft bzw. der Lebensmittelindustrie. Der so hergestellte Kunststoff, in diesem Fall ein Ultramid Polyamid 6 mit 30-prozentiger Glasfaserverstärkung, hat die gleichen Eigenschaften wie ein Primärkunststoff. Der Kunststoff ist dabei nach dem sogenannten „Massenbilanzverfahren“ zertifiziert: Eine unanhängige Zertifizierung bestätigt, dass der Partner die für das Endprodukt benötigten Mengen an fossilen Ressourcen durch nachwachsende Rohstoffe und Pyrolyseöl aus recycelten Altreifen ersetzt hat.
Der für den Bügeltürgriff gemeinsam entwickelte Lösungsansatz wird zudem auf einen Crash-Absorber für die Mercedes-Benz S-Klasse übertragen. Als Bauteil der vorderen Karosserie unterstützt der Crash-Absorber die Kräfte gleichmäßig abzubauen, die bei einem Frontalaufprall auf das Fahrzeug einwirken. Auch hierbei erfüllt ein massenbilanziertes Kunststoffcompound auf Basis von Pyrolyseöl und Biomethan der BASF die hohen Qualitätsanforderungen von Mercedes-Benz, insbesondere hinsichtlich der Crashsicherheit. „Auf dem Weg in eine vollelektrische Zukunft überdenken wir die Zusammensetzung aller Materialien in unseren Fahrzeugen“, betont Markus Schäfer, Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz Group AG, Chief Technology Officer, Entwicklung & Einkauf. Dafür beabsichtige Mercedes, jährlich mehrere hundert Tonnen Altreifen aus Mercedes-Benz Fahrzeugen chemisch zu recyceln und das dabei entstandene Kunststoffmaterial in die Neuwagen zurückzuführen. Das Unternehmen strebt an, den Anteil an recycelten Materialien in seiner Pkw-Flotte bis 2030 auf durchschnittlich 40 Prozent zu erhöhen.
Vom Altreifen zu nachhaltigen Sportschuhen
Auch Evonik setzt auf Nachhaltigkeit und spart bei der Herstellung des Polyamid-12-Elastomers (PEBA) Vestamid eCO E40 50 Prozent der fossilen Rohstoffe ein. Sie werden durch einen Ausgangsstoff ersetzt, der durch chemisches Recycling aus Altreifen gewonnen wurde.

Vestamid eCO E40, ist wie sein klassisch hergestelltes Pendant Vestamid E40, ein thermoplastisches Elastomer aus der Familie der Polyetherblockamide. Die PEBA-Formmassen werden seit mehr als 40 Jahren von namhaften Sportartikelherstellern geschätzt und beispielsweise in Sportschuhsohlen eingesetzt. Auch in weiteren anspruchsvollen Anwendungen einsetzbar, z.B. in der Automobilindustrie oder der Medizintechnik, werden sie genutzt.
Chemisches Recycling wendet Mercedes-Benz in Fällen an, in denen mechanisch erzeugte Rezyklate aus technischer Sicht entweder gar nicht oder nur bedingt eingesetzt werden können, beispielsweise bei Crash- oder sicherheitsrelevanten Bauteilen. Mit dem Pyrum-Thermolyseverfahren können solche Bauteile künftig auch mit Sekundärrohstoffen hergestellt werden. Das chemische Recycling soll das mechanische Recycling nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen.
Pyrum-Werk erzeugt 200 Tonnen Wasserstoff im Jahr
So nutzt Pyrum mit seinem Verfahren das große Potenzial von Altreifen und spart einen Großteil der üblichen CO2-Emissionen. Pyrum forscht fortlaufend an neuen Abfall- sowie Rohstoffen, wie etwa die Extraktion von Wasserstoffen. „Wir arbeiten mit unserer Technologie an dem Recycling neuer Abfallströme. Jeder Abfallstrom ist anders und wir müssen die Technik jedes Mal, mal mehr, mal weniger, anpassen“, erklärt Pascal Klein. Aktuell liegen die Forschungsgebiete bei PUR, kohlefaserverstärkten Kunststoffen und Fahrradreifen. „Zusätzlich haben wir herausgefunden, dass unser Gas aufgrund der hohen Temperaturen in unserem Prozess, extrem viel Wasserstoff enthält. Teilweise bis zu 40 Prozent. Dieses versuchen wir nun zu isolieren“, beschreibt Klein die nächsten Schritte. Sollte dies großtechnisch auch gelingen, kann ein Pyrum-Werk pro Jahr etwa 200 Tonnen Wasserstoff erzeugen. Diese Menge reicht aus, um 20 bis 25 wasserstoffbetriebene LKW pro Tag zu tanken.
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