Digitalisierung in der Produktentwicklung Nachhaltigkeit in Konstruktion und Entwicklung: Da geht noch was

Wir zeigen, an welchen Stellen des Produktentstehungsprozesses die Digitalisierung bereits wichtige Hebel für mehr Nachhaltigkeit in Bewegung gesetzt hat – und was noch zu tun und in 2022 zu erwarten ist.

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Nachhaltigkeit entwickelt sich zunehmend zu einem Wettbewerbsvorteil. Wie die Digitalisierung der Produktentwicklung diesen Trend unterstützt.
Nachhaltigkeit entwickelt sich zunehmend zu einem Wettbewerbsvorteil. Wie die Digitalisierung der Produktentwicklung diesen Trend unterstützt.
(Bild: gemeinfrei / Pixabay )

Die Auswirkungen des Klimawandels wurden uns in Deutschland im Jahr 2021 konkreter als je zuvor vor Augen geführt. Auch weltweit wurde laut Google Trends im vergangenen Jahr häufiger als je zuvor danach gesucht. Ein neuer Weltrekord wurde 2021 auch bei der Suche nach dem Begriff Nachhaltigkeit aufgestellt: So, die Schlussfolgerung von Google Trends, seien umweltfreundliche Praktiken auf dem Weg zum neuen Standard. Nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch für den Arbeitsalltag steigt die Bedeutung zunehmend, wie Daten der Online-Jobplattform Stepstone.de zeigen:

Fast jeder Zweite sucht bei einem Jobwechsel gezielt nach nachhaltigen Unternehmen.

Das Thema Nachhaltigkeit muss also auf der Agenda ganz oben stehen, nicht zuletzt wegen gesetzlicher Vorgaben wie dem Green Deal. Die fortschreitende Digitalisierung der Industrie kann hier wichtige Beiträge leisten und die nachhaltige Entwicklung in vielen Bereichen unterstützen und beschleunigen – sei es durch datengetriebene Effizienzsteigerungen oder digitale Innovationen, etwa für nachhaltige Produkte, Kreislaufwirtschaft und die Energiewende. Wir zeigen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige Aspekte und Trends, die dank Digitalisierung zu mehr Nachhaltigkeit im Produktentstehungsprozess führen, beginnend mit dem Konstrukteur und seinen Arbeitsbedingungen.

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Das Jahr 2022 markiert einen Meilenstein in der Geschichte der Digitalisierung: Erstmals werden knapp zwei Drittel (65 Prozent) des weltweiten Bruttoinlandsprodukts digital generiert, wie eine IDC-Studie prognostiziert.

Schritt 1: Der Konstrukteur und Entwickler

Homeoffice, mobiles Arbeiten oder Remote Work: Ungeachtet der vielen Begriffe und damit verbundenen Rahmenbedingungen bietet das New Work großes Potenzial und wird Stepstone zufolge auch so selbstverständlich sein wie einst Büropräsenz: Auf dem Jobportal ist der Anteil der Suchanfragen nach Jobs mit Homeoffice-Option 2021 im Vergleich zum letzten Jahr um 105 Prozent gestiegen. Den Trend bestätigt auch eine Studie von Bitkom:

So haben 92 Prozent Videokonferenzen statt persönlicher Treffen neu eingeführt oder ausgeweitet, drei Viertel (74 Prozent) Tools zur digitalen Zusammenarbeit und rund zwei Drittel (63 Prozent) haben zusätzliche Hardware angeschafft. Im Personalbereich haben 8 von 10 (81 Prozent) der befragten Unternehmen Homeoffice ausgeweitet oder neu eingeführt. Prozesse wurden häufig digitalisiert, etwa indem digitale Dokumente statt Papier (66 Prozent) oder digitale Signaturen statt der handschriftlichen Unterschrift (60 Prozent) genutzt werden - der erste Punkt für den Ressourcenschutz: weniger gefahrene Kilometer und weniger bedrucktes Papier.

Im Vor-Corona-Jahr 2019 erreichten die Dienst- und Geschäftsreisen in Deutschland neue Rekordzahlen: 13,0 Millionen Geschäftsreisende sowie 195,4 Millionen Geschäftsreisen, von denen rund 70 Prozent reine Tagesreisen darstellten. Auch die Kosten für Geschäftsreisen deutscher Unternehmer waren mit 55,3 Milliarden Euro so hoch wie noch nie.

Quelle: VDR-Geschäftsreiseanalyse 2019

Der nächste Punkt für die Nachhaltigkeit: deutlich weniger Dienstreisen. Kollaboratives Arbeiten im virtuellen Raum kann hunderte Stunden Reisezeit einsparen, sodass Hunderttausende Kilo CO2 nicht ausgestoßen werden. Möglich wird dies durch deutlich verbesserte Möglichkeiten für die Kollaboration, sei es in den klassischen PLM/CAx-Plattformen oder durch VR/AR-Lösungen wie Hololight oder We Are sie entwickelt haben:

Dank digitaler Modelle, der Cloud, schier unbegrenzter Rechenleistung und den beiden Technologien Virtual Reality und Augmented Reality können heute komplexe Sachverhalte wie CAD-Modelle im virtuellen Raum von verteilten Teams begutachtet und sogar bearbeitet werden. Was zunächst aus einer der Pandemie geschuldeten Not entstanden ist, hat sich vielfach bewährt, sodass laut der Barometer-Umfrage des Verbands Deutsches Reisemanagement Juni 2021 94 Prozent der Befragten prognostizieren, dass die Zahl der Geschäftsreisen nach der Corona-Pandemie langfristig zurückgehen wird. Rund 70 Prozent der Unternehmen rechnen mit 30 Prozent weniger Außendiensteinsätzen. Stattdessen sollen Sinn und Zweck von Dienst- und Geschäftsreisen stärker denn je hinterfragt und geprüft werden.

Praxisbeispiel

Was der Einsatz von VR bewirkt

Anhand eines konkreten Kundenbeispiels von We Are lassen sich folgende Zeitersparnisse und C02-Reduzierung berechnen:

  • Ein international tätiges Maschinenbauunternehmen ersetzt je 25 Prozent der Präsenzmeetings zweier Projektteams durch Virtual Reality. Beide Teams bestehen aus fünf Mitgliedern, eines arbeitet an einem nationalen, eines an einem internationalen Projekt.
  • Das national agierende Team hat 4 Reisetage pro Monat mit je 3 Stunden für An- und Abreise. Das internationale Team reist vier Mal pro Jahr für 5 Tage nach Shanghai ‒ von Tür zu Tür dauert das rund 20 Stunden.
  • Die so gesparte Reisezeit beträgt insgesamt 560 Stunden, 360 Stunden national, 200 international. Bei einem Stundensatz von rund 60 Euro für einen Ingenieur werden so für das Unternehmen und seine Kunden 33.600 Euro eingespart.
  • Die Maßnahme des Unternehmens spart alleine 27 Tonnen CO2 durch nicht getätigte Flugreisen und knapp 11,5 Tonnen CO2 durch nicht gefahrene Kilometer im eigenen Land.
  • Obendrein steigt die Mitarbeiterzufriedenheit, da stressige Geschäftsreisen zum Teil entfallen, was einer gesunden Work-Life-Balance zuträglich ist.

Schritt 2: Das Produktdesign

Auch bei der Entwicklung und dem Design eines Produktes müssen und können Konstrukteure heute auf verschiedene Technologien bauen, die erst dank technologischer Fortschritte möglich wurden.

  • Eine sehr vielversprechende Option ist das sogenannte generative Design, bei dem Computer und Mensch gemeinsam entwickeln. Algorithmen schlagen dem Konstrukteur Designoptionen für die Erfüllung bestimmter Anforderungen vor, beispielsweise hinsichtlich Leichtbau, was sich positiv auf den Materialeinsatz und letztlich auf die CO2-Bilanz auswirkt. In Kombination mit der additiven Fertigung, auf die später genauer eingegangen wird, ergibt sich hier enormes Potenzial.
  • Software für das Produktlebenszyklus-Management (PLM) trägt ebenfalls zu dieser positiven Dynamik bei, da sie ein hohes Maß an Transparenz und Rückverfolgbarkeit bezüglich des Kohlenstoff-Fußabdrucks eines Produkts während seiner gesamten Lebensdauer bietet. Auf die gleiche Weise, wie man die Masse eines Produkts aufbauen kann, kann auch seine Gesamtkohlenstoffbilanz gezählt werden, um Ingenieuren bei der Entwicklung nachhaltiger Lösungen zu helfen.
  • PLM-Software umfasst zudem Funktionen, die beispielsweise die Einhaltung der REACH-Verordnung über die Verwendung von potenziell gesundheits- und umweltgefährdenden chemischen Stoffen sicherstellen. Bei der Wahl von weniger umweltbelastenden Komponenten und Materialien geht es nicht nur um die Erfüllung gesetzlicher Verpflichtungen, sie vervollständigt zudem den positiven Kreislauf von Design und Wiederverwendung nachhaltiger Produkte.
  • Zudem integrieren mehr und mehr CAD-Anbieter Funktionen für die Entwicklung nachhaltiger Produkte in ihre Lösungen, als Beispiel sei hier Solidworks Sustainability genannt.

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Schritt 3: Digitales Prototyping

In 2021 wurde besonders die produzierende Industrie mit enormen Herausforderungen konfrontiert: Schlagzeilen zu Engpässen in der Zulieferindustrie, schwankenden Rohstoffpreisen und explordierenden Energiepreise waren an der Tagesordnung. Wie der AR/VR-Spezialist We Are findet, löst virtuelles Prototyping viele dieser Probleme auf einen Schlag – und hat ein Beispiel parat:

Praxisbeispiel

Für die SMS Group ist die Nutzung von AR/VR-Technologien wie We Are Rooms mittlerweile ein fester Bestandteil aller neuen Projekte, insbesondere im Zusammenhang mit Design Review Meetings ihrer Anlagen. Die SMS Group schätzt, dass sich die Anzahl der Fehler dank der virtuellen Modelle bereits im Planungsstadium um 20 Prozent reduzieren lässt. Und konsequent weitergedacht über alle Entwicklungs- und Planungsprozesse, gehen die Verantwortlichen von 70 Prozent weniger Zeitaufwand für Kommunikationsprozesse aus. Virtuelles Prototyping spart somit immense Kosten, ist unabhängig von Rohstofflieferungen und räumt wesentlich mehr Bearbeitungsflexibilität in der Entwicklungsphase ein.

Auch bei Porsche Engineering kommt in der Entwicklung auf Virtual Reality erfolgreich zum Einsatz, wie wir bereits berichteten. Das Unternehmen setzt auf Engines – sowohl für die Absicherung von Assistenzfunktionen als auch für die Fahrzeugkonstruktion.

Ein weiteres Beispiel kommt aus den USA, genauer gesagt vom Luftfahrtunternehmen Bell: Normalerweise braucht es sechs bis sieben Jahre, um einen Helikopter zu entwickeln. Bell hat das in nur sechs Monaten geschafft. Wie? Komplett digital und maßstabsgetreu in Virtual Reality.

Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 werden wir das Zusammenwirken der Trends der Digitalisierung und Nachhaltigkeit in Deutschland am besten beobachten können, denn sowohl die Effizienzgewinne in der Industrie als auch die Optimierung der Produktionsprozesse selbst – beispielsweise durch vorausschauende KI-Methoden – werden uns eindrucksvoll zeigen: Die Ökobilanz der Digitalisierung ist positiv, und vor allem in Deutschland liegen immense und zum Teil noch ungehobene Nachhaltigkeitspotenziale im industriellen Sektor.

Alexander Rabe, Geschäftsführer Eco – Verband der Internetwirtschaft e. V.

Grundlage für all diese Prozesse sind die digitalen Modelle, die im Idealfall mit der Produktidee geboren werden und dann als sogenannter Digitaler Zwilling mit dem Produkt über seinen kompletten Lebenszyklus verbunden sind. Die virtuellen Abbilder realer Objekte sind schon seit einigen Jahren im Gespräch, werden aber bislang noch nicht flächendeckend eingesetzt. Das dürfte sich in den kommenden Monaten mit der zunehmenden Verfügbarkeit standardisierter Frameworks und Plattformen ändern, meint IT-Experte Dell Technologies Deutschland. In seinem Trendbericht für 2022 rechnet das Unternehmen mit einem Durchbruch für den digitalen Zwilling und schreibt:

Standardisierte Frameworks und Plattformen werden sowohl die Erstellung und Nutzung digitaler Zwillinge erleichtern als auch die damit verbundenen Kosten deutlich senken. Damit wird das Konzept schnell weitere Verbreitung finden und Unternehmen bei Analysen und Vorhersagemodellen unterstützen.

Das Potenzial: Statt teurer Prototypen und langwieriger Versuchsketten lassen sich mit digitalen Abbildern allerhand Szenerien im kompletten Produktentwicklungsprozess innerhalb kürzester Zeit durchspielen, Lösungsstrategien entwickeln und verwerfen, Verbesserungsmöglichkeiten ausloten und umsetzen. Wird das virtuelle Abbild um Daten aus der Nutzung ergänzt, ergeben sich weitere Vorteile in punkto Nachhaltigkeit– hier ein paar Beispiele:

  • Beschleunigung der Entwicklungszyklen
  • Optimierung der Produktleistung
  • Einsparung von überflüssigen Komponenten im Produktdesign
  • Optimierung des Materialeinsatzes
  • Reduzierung des Wartungsaufwands

Schritt 4: Die Fertigung

Ganz klar: Die additive Fertigung bzw. der 3D-Druck nimmt bei der nachhaltigen industriellen Produktion eine Schlüsselrolle ein, denn sie hat vielfältiges Potenzial – hier einige ausgewählte Beispiele:

  • Mittels 3D-Druck und formoptimierten Bauteilen entstehen Leichtbau-Komponenten, die entsprechend ihrer Anforderungen nur dort Material haben, wo es wirklich benötigt wird. So als weiterer Vorteil neben der reinen Materialeinsparung auch zeit- und kosteneffizient gefertigt.
  • Wenn das Bauteil am Ende weniger schwer wiegt, wird auch während seines Lebenszyklus weniger Energie aufgewendet – etwa hinsichtlich Transport, Handhabung oder im Automobilbau.
  • Durch die Möglichkeit, Ersatzteile kosteneffizient und schnell in kleiner Stückzahl herzustellen, lohnt es sich, Vorhandenes mit dem 3D-Drucker wieder fit zu machen
  • 3D-Druck ermöglicht es, Bauteile auf Nachfrage statt auf Vorrat zu erstellen. Die Folge: Geringere Lagerkosten und die Vermeidung von Überproduktionen.
  • Weil nicht mit klassischen Werkzeugen produziert wird, müssen keine umweltbelastenden Kühl- oder Schmiermittel eingesetzt werden.

Wie so oft bei neuen Technologien ist jedoch nicht alles Gold was glänzt. Nicht immer macht 3D-Druck Sinn und nicht immer ist er nachhaltiger oder ökologischer als herkömmliche Fertigungsverfahren, wie etwa die Massivumformung: Auch hier wird weiter an der Nachhaltigkeitsschraube gedreht.

Buchtipp

Das Buch "Additive Fertigung" beschreibt Grundlagen und praxisorientierte Methoden für den Einsatz der additiven Fertigung in der Industrie. Es richtet sich an Konstrukteure und Entwickler, um eine erfolgreiche Implementierung additiver Verfahren in ihren Unternehmen zu unterstützen.

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Schritt 5: Recycling

Wenn Produkte das Ende ihrer Lebensdauer erreichen, ist das Recycling oder die ordnungsgemäße Entsorgung von Materialien entscheidend für die Verringerung der Umweltauswirkungen eines Produkts. Wenn diese recycelten Materialien wieder in die Produktion einfließen können, sei es beim ursprünglichen Hersteller oder anderswo, kann der Vorteil noch größer sein. Recyclingressourcen sind nicht nur nachhaltig – oft sind Sekundärrohstoffe auch preiswerter als Primärrohstoffe. Doch noch fehlt es an einem effektiven Informations- und Distributionsweg zur industriellen Weiterverwertung. Aber auch hier kann die Digitalisierung Abhilfe schaffen und Fragen nach dem Ursprung, der Recyclingmethode, den Mengen, des Standorts und der spezifischen Zusammensetzung von beispielsweise Kunststoffen zur Verfügung stellen. Die Digitalisierung soll helfen, diese ungenutzten Potenziale zu erschließen. Sehr aktiv auf diesem Gebiet ist zum Beispiel das Wuppertal Institut.

Neben der Materialrückgewinnung ermöglicht die Analyse ausgemusterter Produkte wichtige Erkenntnisse, die in den digitalen Zwilling neuer Modelle einfließen, wodurch ein Kreislauf der Produktverbesserung entstehen kann.

Hohe Produktqualität, schnelle Entwicklungszeiten, Agilität in der Herstellung – und nun auch nachhaltige Produktion. Unternehmen müssen heute gleich eine Vielzahl an Parametern beachten. Ohne die Vorzüge der Digitalisierung zu nutzen, wird es Herstellern in den kommenden Jahren daher kaum gelingen, wirtschaftlichen wie ökologischen Erfolg zu vereinen. Neue Ideen werden der Schlüssel sein, um die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen und auf eine saubere, CO2-arme Wirtschaft umzustellen. Als Motor der Wirtschaft wird es hierbei vor allem auf fertigende Unternehmen ankommen.

Darko Sucic, Senior Director, Industry Consulting in Central Europe, Dassault Systems

Abschließend sei auch die Kehrseite der Medaille nicht unerwähnt: Digitalisierung hat einen ökologischen Preis – Rechenzentren, Kommunikationsinfrastrukturen und unzählige Endgeräte verbrauchen immer mehr Energie und tragen zum Klimawandel bei.

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