Digitalisierung „Flucht nach vorn“

Autor Ute Drescher

Dr. Jürgen Brandes verantwortet die Division Process Industries and Drives bei Siemens und gestaltet die Digitalisierung der Industrie aktiv mit. Im Interview erklärt der CEO, wie Konstrukteure davon profitieren können, welche Hindernisse er derzeit noch sieht und wie die Arbeitswelt von morgen aussehen könnte.

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„Inzwischen spricht man auch von der Krise im White-Collar-Bereich. Ich glaube, hier hilft nur die Flucht nach vorne“, meint Dr. Jürgen Brandes, CEO der Division Process Industries and Drives, Siemens AG.
„Inzwischen spricht man auch von der Krise im White-Collar-Bereich. Ich glaube, hier hilft nur die Flucht nach vorne“, meint Dr. Jürgen Brandes, CEO der Division Process Industries and Drives, Siemens AG.
(Bild: Siemens)

Digitalisierung – was bedeutet das für Konstrukteure und Entwickler?

Simulation gehört heute zum Handwerkszeug für Konstrukteure und Entwickler, um bereits während der Konstruktionsphase verlässliche Aussagen über die Funktion z. B. des Motors, des Getriebes oder der Arbeitsmaschine treffen zu können. Das dabei genutzte Simulationsmodell beinhaltet das technologische Know-how und stellt einen wesentlichen Bestandteil dessen dar, was man unter einem digitalen Zwilling versteht. Dieser kann durch weitere Bestandteile, wie z. B. Zustandsanalyse und Lebensdauerabschätzungen zu einem Verhaltensmodell erweitert werden, das auch der Endkunde benutzen kann, um die Betriebsphase zu überwachen und zu optimieren. Die Frage ist jetzt: Wie kann ich dieses zusätzliche Wissen als Mehrwert den Endkunden anbieten, um damit unsere Geräte, wie z. B. den Motor oder das Getriebe noch attraktiver zu machen.

In Zukunft gehört der digitale Zwilling also zum Gesamtpaket?

Ja. Jede reale Komponente einer Anlage wird zukünftig einen digitalen Zwilling besitzen. Dieser digitale Zwilling kann wiederum Bestandteil eines Gesamtsystems werden. Und genau dies ist ein wesentlicher Kern der Digitalisierung in der Industrie. Damit sind wir in der Welt der Digitalisierung angekommen.

„Konstrukteure und Entwickler wissen um die Zusammenhänge. Die Frage ist jetzt: Wie kann ich dieses Wissen als Mehrwert anbieten und damit die Geräte noch attraktiver machen? “, verdeutlicht Brandes.
„Konstrukteure und Entwickler wissen um die Zusammenhänge. Die Frage ist jetzt: Wie kann ich dieses Wissen als Mehrwert anbieten und damit die Geräte noch attraktiver machen? “, verdeutlicht Brandes.
(Bild: Siemens)

Welche Rolle spielen die Zustandsdaten der realen Antriebskomponenten in diesem Zusammenhang?

Eine entscheidende. Denn in das Verhaltensmodell des Motors oder Getriebes muss man die Zustandsdaten natürlich noch einfließen lassen. Dazu müssen Messwerte wie Vibration, Stromstärke oder Wicklungstemperatur erfasst werden. Und mit dem Wissen des Konstrukteurs und den Daten, die im Betrieb erfasst werden, kann der digitale Zwilling Aussagen über den Gesundheits-Zustand des Motors oder Getriebes liefern, z. B. wie lange seine Lebensdauer voraussichtlich noch sein wird und wann die Komponente ausgetauscht werden muss. Damit bleibt das Wissen des Entwicklers nicht nutzlos für den Endanwender, sondern die in der Konstruktionsphase entstandenen Simulationsmodelle erzeugen einen weiteren Mehrwert für den Anlagenbauer und später für den Endkunden. Der weiß damit sehr viel mehr über das Gerät als vorher.

Unter welchen Voraussetzungen kann der Anwender künftig dieses Wissen auch nutzen?

Der Anlagenbauer benötigt ein Engineering-Tool, das die Möglichkeiten bietet, die mitgelieferten digitalen Zwillinge aller Komponenten in das Gesamtsystem zu integrieren. Wir bei Siemens sind fest davon überzeugt, dass moderne Engineering-Tools in der Lage sind, solche digitalen Zwillinge zu verarbeiten.

Die vorher genannten Verhaltensmodelle stellen für den Anlagenbauer Black Boxes dar, die ihm alle relevanten Informationen über den Zustand der Komponenten geben. Das Engineering-Tool aber kann für eine Gesamtanlage einen digitalen Zwilling erzeugen, der es ermöglicht, jede einzelne Komponente im Kontext der Gesamtanlage intelligent auszuwerten.

Welche Hindernisse erkennen Sie derzeit noch in der Industrie?

Hinderlich ist, dass sich viele noch nicht vorstellen können, dass so etwas möglich ist, wie das dann aussehen könnte und welche Potentiale ein digitaler Zwilling entfalten kann.

„Vielen fehlt es noch an Vorstellungsvermögen und Kreativität", glaubt Brandes.
„Vielen fehlt es noch an Vorstellungsvermögen und Kreativität", glaubt Brandes.
(Bild: Siemens)

Gibt es schon erste reale Anwendungen?

Ja, wir bei Siemens als Automatisierungsanbieter in der Prozessindustrie beherrschen bereits heute die virtuelle Inbetriebnahme der Prozessautomatisierung einer Gesamtanlage. Dadurch kann die Funktion der Prozessautomatisierung mit dem Endkunden diskutiert und abgenommen werden, noch bevor die reale Prozessanlage existiert.

Ein Beispiel für eine Realisierung aus der Betriebsphase sind Pumpen, bei denen wir nicht nur das Verhalten abbilden, sondern auch Betriebszustände erfassen und messen. Dadurch lassen sich unzulässige Betriebszustände vermeiden, wie z.B. eine Abnutzung von Pumpenschaufeln durch erhöhte Kavitation.

Sollte einmal ein unzulässiger Zustand eintreten, kann mit dem digitalen Zwilling der Pumpe die Frage nach einer Überlastung geklärt werden und welche Auswirkungen das auf den Lebenszyklus hat.

Das ist ein typisches Beispiel, wie Konstruktions-Informationen eines Pumpenherstellers einen Nutzen für die gesamte Anlage in der Betriebsphase bieten können.

Wo sehen Sie weitere gute Chancen?

Generell in Brownfieldanlagen der Prozessindustrie, wo sich die Frage nach Kapazitätserweiterungen, Optimierungen, Prozessverbesserungen und Upgrades stellt. In der Regel passiert der Umbau einer solchen Anlage während des Betriebs.

An folgendem Use Case sehen Sie sofort den Vorteil eines digitalen Zwillings. Bevor wir mit dem Kunden über die Einzelheiten eines realen Umbau sprechen, nehmen wir den derzeitigen Zustand der Anlage auf, simulieren, wie der Umbau funktionieren kann und können auch simulieren, ob nach dem Umbau diese Anlage tatsächlich den Bedingungen genügt.

Erst wenn der Prozess beim digitale Zwilling so funktioniert, wie der Kunde sich das wünscht, fangen wir an, die existierende Anlage real umzubauen, und zwar genau so, wie wir es vorher simuliert haben. Das, glaube ich, ist gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Situation eine der interessantesten Anwendungen auch in den traditionellen Branchen.

„Upgrades und Umbauten sind gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Situation eine der interessantesten Anwendungen für die Digitalisierung“, glaubt Brandes.
„Upgrades und Umbauten sind gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Situation eine der interessantesten Anwendungen für die Digitalisierung“, glaubt Brandes.
(Bild: Siemens)

Wo steht Siemens im Hinblick auf die Diskussion über offene oder geschlossene Systeme?

Da gibt es eine klare Philosophie. Wir unterstützen offene Systeme, weil wir diese für sehr wichtig halten. Geschlossene Systeme werden sich sukzessive öffnen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir bei Siemens unterstützen und nutzen bereits seit vielen Jahren offene Standards. Bereits heute sind wir bei Siemens in der Lage als Anbieter auch die Verantwortung für ein Gesamtprojekt zu übernehmen, bei dem Komponenten unterschiedlicher Anbieter integriert werden. Wir fühlen uns in beiden Themen zu Hause.

Bedient Siemens auch kleine und mittelständische Unternehmen?

Ein ganz klares Ja. Wir wollen Partner für den Mittelstand sein im besten Sinne des Wortes. Wir erwarten z. B. von unseren Zulieferern, dass sie uns Verhaltensmodelle als Black Boxes zur Verfügung stellen. Wenn die Black Boxes kompatibel zu unserem Siemens-System sind, haben wir dann die Chance, damit einen digitalen Zwilling des Gesamtsystems aufzubauen. Dadurch ergeben sich nun wiederum Geschäftsmöglichkeiten für den Zulieferer, da wir diesen in der Betriebsphase in den Service mit integrieren und somit eine Win-win-Situation entsteht.

Welche Bedeutung hat der Mensch in einem digitalsierten Umfeld noch?

Nachdem die Automatisierung der Produktionsprozesse den Blue-Collar Bereich verändert hat, spricht man Zusammenhang mit der Digitalisierung inzwischen auch von einer Krise im White-Collar-Bereich.

Ich glaube, hier hilft nur die Flucht nach vorne.

Auch der Einzelne sollte sich dem Trend zur Digitalisierung öffnen, sich weiterbilden und damit die Chance ergreifen, sich in der neuen Welt zurecht zu finden. Denn die Welt lässt sich nicht zurückdrehen.

„Die Welt lässt sich nicht zurückdrehen“, warnt der CEO.
„Die Welt lässt sich nicht zurückdrehen“, warnt der CEO.
(Bild: Siemens)

Wie wird sich die Zusammenarbeit mit Ihren Kunden in Zukunft gestalten?

Wir als Siemens werden nicht der einzige Nutznießer des Digitalisierungs-Trends sein. Die neue Welt erfordert neue Koalitionen, neue Wege der Zusammenarbeit und auch immer wieder die Suche nach dem Win-win-Konzept. Es gilt, den anderen nicht über den Tisch zu ziehen.

Unsere Kunden werden sich daran gewöhnen müssen, sich für gewisse Teile unserer Produkte auf rein virtuelle Plattformen einzulassen, die ihnen neue Möglichkeiten bieten. Im Zuge der Digitalisierung wird sich auch die Art und Weise ändern, wie wir mit unseren Kunden Informationen austauschen.

Wie wird diese neue Art der Zusammenarbeit konkret aussehen?

Konstrukteure und Entwickler haben mit einem Mal viel einfachere Möglichkeiten aus dem Internet nicht nur die digitale CAD-Zeichnung eines Motors zu nehmen, sondern auch den dort angebotenen digitalen Zwilling für Verhaltensanalysen zu nutzen. Wenn sie dann bei dem von ihnen ausgewählten System noch unsicher sind, können sie sich per Mausklick mit einem der weltweit verteilten Siemens-Experten beraten, der aber wirklich der Fachmann ist. Sind sie dann in dieser virtuellen Welt sicher, dass sie einen guten Designschritt vollzogen haben, können sie auf den Knopf drücken und der Einkaufsabteilung mitteilen: Bitte bestellt bei Siemens den Motor mit folgender Bestellnummer.

Wenn wir uns fragen, ob sich etwas geändert hat, lautet die Antwort: 'Ja'. Sie sind mit ganz anderen Menschen in Kontakt gekommen. Ihnen ist ganz anders geholfen worden, der ganze Prozess ist schneller geworden und hoffentlich auch fehlerfreier.

Das ist die Welt von morgen.

Vielen Dank, Herr Dr. Brandes.

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