Engineering „Echte Offenheit schafft ingenieurtechnische Freiheit“
Mit der Abkehr von geschlossenen Steuerungssystemen zugunsten einer softwarebasierten, hardwareunabhängigen Automatisierung verfolgt Schneider Electric seit einem Jahr einen völlig neuen Ansatz. Pierre Bürkle, Vice President Industrial Automation DACH bei Schneider Electric, erklärt, warum das den Engineering-Aufwand im Maschinenbau um bis zu 50 % reduzieren kann.
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Vor einem Jahr kündigte Ihr Kollege Jürgen Siefert an, dass sich Schneider Electric traut, den nächsten großen Schritt zu gehen. Mit Ecostruxure Automation Expert. Wieviel Zuspruch gibt es bis heute?
Pierre Bürkle: Wir wollen damit einen konkreten Weg für die zukunftsfähige Weiterentwicklung der Automatisierungstechnik anbieten. Dazu gehört im Sinne der Norm IEC 61499 eine Abkehr von geschlossenen Steuerungssystemen zugunsten einer softwarebasierten, hardwareunabhängigen Automatisierung. Industrie 4.0-Potenziale, also schnelle Umrüstzeiten, kleine Losgrößen, Datenintegration oder nachhaltige Produktion, lassen sich auf dieser Basis deutlich besser realisieren. Und wie sich mittlerweile in Gesprächen mit Partnern, Kunden und in ersten Pilotprojekten gezeigt hat, laufen wir mit unserem visionären Automatisierungs-Ansatz offene Türen ein. Gerade, wenn es um ein vereinfachtes Engineering mit vorgefertigten Funktionsbausteinen oder Plug-and-Play-Logiken nach dem Vorbild der IT-Welt geht.
Sie waren im letzten Jahr zunächst mit dem Release 20.2 gestartet. Wie weit sind Sie jetzt?
Pierre Bürkle: Wir sind wie erhofft vorangekommen. Pünktlich zur Hannover Messe haben wir mit Version 21.1. bereits einiges optimiert. Unter anderem eine verbesserte Cybersecurity, Diagnosetools, Funktionen für Erkennung und Inbetriebnahme sowie erweiterte Funktionsbibliotheken. Was zudem ganz wichtig ist: Unser Ecostruxure Automation Expert lässt sich nun noch besser mit der System Plattform von Aveva integrieren. Bereits mit minimalem Aufwand lässt sich das Softwareportfolio für Überwachungs-, Enterprise SCADA-, MES- und IIoT-Anwendungen nun verwenden. Im Rahmen einer internen Studie ließ sich der Engineering-Aufwand für ein typisches Maschinenbau-Projekt durch diese Kombination um über 50 Prozent reduzieren.
Oft wird sehr oberflächlich von ‚offenen‘ Technologien geredet. Wie definieren Sie ‚echte Offenheit‘?
Pierre Bürkle: Bei Schneider Electric definieren wir offene Automatisierung gemäß der Norm IEC 61499. Als Weiterentwicklung der IEC 61131-3 definiert diese ein generisches Modell für verteilte Steuerungssysteme. Grundgedanke ist ein rein softwarebasiertes – von der zugrundeliegenden Hardware abstrahiertes – Modellieren von automatisierten Anwendungen mithilfe vorgefertigter Funktionsbausteine. Dazu sieht IEC 61499 vor, dass die Funktionsbibliotheken von Programmierumgebungen grundsätzlich offen und ohne Herstellerbindung vorliegen müssen. Auf diese Weise sind Nutzer nicht mehr an einen bestimmten Anbieter gebunden und eine automatisierte Anwendung kann vollständig in der Software modelliert und getestet werden – noch bevor überhaupt ein einziges Stück Hardware verbaut wurde. Dieser Grad an ingenieurstechnischer Freiheit ist für unser Verständnis von ‚echter Offenheit‘ kennzeichnend.
Es gelingt nur, wenn alle zusammenarbeiten. Wie?
Pierre Bürkle: Zum einen natürlich, indem wir nicht müde werden, unsere Partner und Kunden von den enormen Vorteilen zu überzeugen. Zum anderen ist die Gründung der unabhängigen Non-Profit-Association ‚UniversalAutomation.Org' ein wichtiger Schritt. Hersteller, Maschinenbauer, Systemintegratoren, Endkunden und Universitäten arbeiten hier künftig zusammen, um die Idee universeller Automatisierung etwa durch die gemeinsame Arbeit an einer herstellerunabhängigen Runtime für verteilte Steuerungssysteme voranzutreiben. Dieser Organisation geht es im Kern um genau das: Interoperabilität, Portabilität und eine enge Verzahnung von IT und OT.
Wie will Schneider Electric eine echte durchgängige Vernetzung von IT und OT erreichen?
Pierre Bürkle: Indem wir Insellösungen und geschlossene Systeme sukzessive abbauen. Innerhalb unserer IoT-Lösungsarchitektur Ecostruxure sind zum Beispiel sämtliche Feldgeräte, Steuerungen und Softwareanwendungen zu durchgängigem Datenaustausch befähigt. Auf diese Weise lässt sich Datentransparenz herstellen, die als Grundlage für den Einsatz intelligenter Softwarelösungen dient. Um Brownfield-Anlagen mit heterogenen Maschinenlandschaften ganzheitlich zu vernetzen, haben wir zudem unser Green Box Sortiment entwickelt. Im Kern besteht dieses aus dem neuen Industrie-PC Harmony P6, der mit über 300 Kommunikationsprotokollen für alle gängigen Steuerungssysteme ausgestattet ist. Damit lassen sich Daten herstellerunabhängig zusammenführen. Unser Software-Advisor, aber auch die System Plattform von Aveva können auf dem IPC installiert werden und profitieren von den zusammengeführten Daten.
Wenn Sie mit unserem Ecostruxure Automation Expert arbeiten, besteht das Problem der nachträglichen Datenintegration übrigens gar nicht. Denn von Anfang an existiert die gesamte Maschine auch als virtuelle Einheit, sie ist mit all ihren mechatronischen Komponenten, cyberphysischen Systemen oder Modulen verfügbar und sichtbar.
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Smart Factory
Wie sich die Produktion schnell an wechselnde Kundenwünsche anpassen lässt
Es wird gesagt, dass es bereits alle Technologien gibt, um solche universellen Ansätze zu verwirklichen. Läge es dann ‚nur noch‘ am Wollen?
Pierre Bürkle: Wir vertreten den Ansatz universeller Automatisierung, weil wir zutiefst davon überzeugt sind, dass die Technologien dafür bereits verfügbar sind. Aber, bei allen Vorteilen, die dieser Ansatz für OEMs und Endkunden bringt, uns ist natürlich bewusst, dass sich bewährte Konventionen nicht über Nacht aus den Angeln heben lassen. Das wäre auch gar nicht zielführend. Schließlich haben die bisherigen Standards über viele Jahre gute Dienste geleistet. Angesichts der technischen Entwicklung bei der Rechenleistung und Vernetzung sowie den gewachsenen Ansprüchen an Flexibilität, Effizienz und Nachhaltigkeit sind die bewährten Ansätze jedoch zunehmend überholt.
Jetzt sind sogenannte Early Adopter gefordert, die vorangehen und die enormen Mehrwerte eines hardwareunabhängigen Konzepts demonstrieren. So zum Beispiel unser Kunde GEA Westfalia. Der Maschinenhersteller aus Oelde hat den Ecostruxure Automation Expert bei der Entwicklung eines Separators für die Pharmaindustrie im Einsatz und profitiert von einem deutlich weniger fehleranfälligen und vereinfachten Engineering. Auch die Integration des Separators in übergeordnete Managementsysteme fällt dank Hardwareunabhängigkeit deutlich leichter.
Die Kombination aus genereller Hardwareunabhängigkeit und objektorientierter Programmierung schafft für die Konstruktion ein ganz neues Maß an ingenieurstechnischer Freiheit – unter anderem durch Vereinfachung./blockquote>
Was bringt diese Offenheit der Konstruktion und Entwicklung für Vorteile?
Pierre Bürkle: Die Kombination aus genereller Hardwareunabhängigkeit und objektorientierter Programmierung schafft für die Konstruktion ein ganz neues Maß an ingenieurstechnischer Freiheit – unter anderem durch Vereinfachung. In den Funktionsblöcken, die durch das Ziehen einfacher Linien selbst zu komplexen Systemen zusammengeschaltet werden können, sind bestimmte Objekte oder Anwendungen einer Anlage wie in einer Art Black Box gekapselt. Das reduziert die Komplexität in puncto Automatisierung erheblich. Hinzu kommt, dass die softwareseitig entworfene Anlage ohne Hardware-Beschränkungen ideal ausgelegt werden kann. Es müssen keinerlei Kompromisse eingegangen werden.
Und noch ein Vorteil: Ohne Herstellerbindung ist die nahtlose Überlagerung von OT und IT immer unkompliziert gegeben. Automatisierte Anwendungen existieren im Ecostruxure Automation Expert von Anfang an als eine Art digitaler Zwilling und sind mit all ihren mechatronischen Komponenten, cyberphysischen Systemen oder Modulen verfügbar und sichtbar. Das erlaubt bereits in der Planungsphase wertvolle Simulationen und liefert ein einheitliches Modell für die Konstruktion.
Sie sehen die Norm IEC 61499 als den richtigen Standard dafür. Wie weit geht die Industrie damit konform?
Pierre Bürkle: Ich kann natürlich nicht für die gesamte Industrie sprechen. Aber angesichts technologischer Entwicklungen, zunehmendem Wettbewerbsdruck und klimapolitischer Vorgaben machen sich aktuell viele Entscheidungsträger Gedanken darüber, wie sie ihre Anlagen weiterentwickeln, flexibilisieren und effizienter gestalten können. Und hier sind die Prämissen der Norm IEC 61499 sehr überzeugend. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Forschung von Alois Zoitl, Professor für Cyber-Physical Systems for Engineering and Production an der Johannes Kepler Universität in Linz. Er führt die Tatsache, dass die Norm in der Industrie bisher so wenig Anwendung gefunden hat, auf die Abstraktheit des Themas zurück.
Genau das hat sich ja jetzt geändert. Mit unserem Ecostruxure Automation Expert haben wir eine konkrete, für jeden verständliche Lösung geschaffen, mit der sich praktisch sofort von hardwareunabhängiger Automatisierung profitieren lässt. In seinem 2016 gemeinsam mit Thomas Strasser veröffentlichten Buch ‚Distributed Control Applications‘ betont Alois Zoitl übrigens explizit die Bedeutung von IEC 61499 für eine zukunftsfähige Automatisierungs-Architektur und die Freisetzung der Potenziale von Industrie 4.0. Und da möchte ich ihm nicht widersprechen.
Vielen Dank Herr Bürkle.
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