Kunststoffdirektverschraubung Die Kunst, Kunststoffe richtig zu verschrauben

Das Verbinden von Kunststoffen setzt ein Grundverständnis aller am Prozess beteiligten Schritte voraus. Warum das so ist, erklärt Desoutter anhand der Kunststoffdirektverschraubung.

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Verschraubungen in Kunststoff bekommen Anwender mit dem KoALa-Verfahren von Desoutter gut in den Griff.
Verschraubungen in Kunststoff bekommen Anwender mit dem KoALa-Verfahren von Desoutter gut in den Griff.
(Bild: Desoutter)

Die Kunststoffdirektverschraubung wird im Bereich der mechanischen Verbindungstechnik seit mehr als 30 Jahren eingesetzt. Dazu gibt es eine nahezu unüberschaubare Anzahl an Veröffentlichungen, Richtlinien und Schriften unterschiedlicher Organisationen. Die Auslegung ist demnach einfach, sollte man meinen.

Dennoch findet man in der Praxis immer wieder drei- oder mehreckige Kernlöcher vor, Einschraublängen im Bereich 1×d, viel zu hohe Anziehdrehmomente und zerberstende Einschraubdome. Ebenso gibt es Drehzahlvorschriften, die den eingesetzten Werkstoff außer Acht lassen, sowie unzugängliche Schraubstellen. Es werden falsche Erwartungen in die Höhe und Haltbarkeit der Vorspann- und Restklemmkraft gesetzt, Arbeitsplätze sind schlecht eingerichtet, und Bauteile versagen unter Lastangriff. Diese Reihe ließe sich fortsetzen. Warum also häufen sich bei dieser scheinbar einfachen Technik Fehler und wie kann man sie verhindern?

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Welche Werkstoffeigenschaften Kunststoffe erreichen, hängt vom anschließenden Verarbeitungsverfahren ab. Im Vergleich zur Metallverschraubung entsteht die Vorspannkraft bei Thermoplasten im Wesentlichen nicht durch die Längung der Schraube, sondern durch die Deformation des Kunststoffes. Das bedeutet: Es ist sinnvoll, sich mit Verarbeitung, Konstruktionsvorgaben und den Eigenschaften des zu verschraubenden Materials anzufreunden.

Einflüsse auf die Vorspannkraft

Im Fokus der Verschraubung steht einerseits die erreichbare Vorspannkraft beziehungsweise die Klemmkraft, andererseits die Aufrechterhaltung der höchstmöglichen Restklemmkraft, bestenfalls über die gesamte Lebensdauer. Das impliziert natürlich, dass sich die Schraube nach Möglichkeit nicht selbst lockert und schlimmstenfalls losdreht. Die Herstellung der Verbindung an sich ist nach heutigem Stand der Technik unkritisch. Dennoch gilt zu beachten, dass die Montage allein nicht der maßgebende Faktor ist.

Nachfolgend einige Beispiele unterschiedlicher Einflüsse auf die Zielgröße Vorspannkraft: Das viskoelastische Verhalten thermoplastischer Kunststoffe erfordert im Vergleich zur Metallverschraubung ein Umdenken, was die Höhe der zu wählenden Vorspannkraft und die resultierende Restklemmkraft betrifft. „So hoch wie möglich“ kann mit „kurz oberhalb der Kopfauflage“ gleichgesetzt werden. Die Faustformel „Anziehdrehmoment = Überdrehmoment × 0,7/0,8“ bedeutet in diesem Kontext gegebenenfalls ein sehr schnelles Versagen der Verbindung, mindestens jedoch, dass die Klemmkraft sehr schnell innerhalb weniger Minuten abfällt.

Unterschiedliche Schraubergebnisse bei Prototyp und Serienteil

Die Auslegung der Verbindungsstellen am Bauteil (Einschraubdome) erfolgt in der Regel nach Vorgaben der Schraubenhersteller, internen Werknormen oder den bereits angesprochenen Schriftsätzen. Validiert wird vielerorts an einem Prüfkörper oder einem Bauteil der Vorserie.

Wie bereits erwähnt, haben unterschiedliche Verarbeitungsverfahren immensen Einfluss auf die erzielbaren Werkstoffeigenschaften. So unterscheidet sich beispielsweise der Einschraubkanal eines im ungekühlten Aluminiumdruckguss-Werkzeug hergestellten Prototyps deutlich vom Serienteil: in puncto Anbindung, Bindenahtfestigkeit, Fasergehalt und -verteilung. Der Unterschied im Schraubergebnis – Prototyp zu Serienteil – ist naheliegend, die Fehlerbehebung in diesem Fall oftmals sehr kostenintensiv, wenn das Werkzeug geändert werden muss.

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Stichwort Bindenaht

Bindenähte lassen sich nicht vermeiden, möchte man die Konstruktionsvielfalt und -freiheit der Kunststoffe vollständig nutzen. Die Konstruktion muss dann für ausreichende Festigkeit dieser „Sollbruchstelle“ sorgen. Das beginnt bereits bei der Wahl des richtigen Anspritzpunktes und der Form des Angusses. Einen wesentlichen Einfluss auf die Verbindung hat die Fertigungsumgebung. In Konkurrenz zur Taktzeit stehen beispielsweise niedrige Drehzahlen und mehrstufige Schraubverfahren.

Weiterhin muss im Fertigungsablauf deutlich unterschieden werden, an welcher Stelle die Montage platziert wird: Die Auslegung eines konditionierten hydrophilen Kunststoffes setzt einen bestimmten Feuchtegrad voraus, um die Dehnung des Domes zu ermöglichen. Eine spritzfrische Verschraubung sollte in diesem Fall ausgeschlossen werden.

Zusammenspiel von Konstruktion, Werkstoffauswahl und Herstellverfahren

Ein erfolgreiches Bauteil entsteht aus dem richtigen Zusammenspiel von durchdachter Konstruktion, sorgfältiger Werkstoffauswahl und geeignetem Herstellverfahren. Daher steht die Verbindungstechnik von Kunststoffen in enger Beziehung zur gesamten Produktentwicklung. Alle notwendigen Prozessschritte müssen bereits in der Entwurfsphase auf die Werkstoffeigenschaften, die Formgebung und die Montage abgestimmt werden.

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Das KoALa-Verfahren

KoALa steht für Kopfauflageerkennung der Schraube. Während des Montagevorgangs mit elektronisch gesteuertem Schraubwerkzeug wird die Schraubkurve analysiert und der Zeitpunkt der Kopfauflage bestimmt. Je nach Anforderung wird die Schraube dann um einen bestimmten Drehwinkel weitergedreht oder auf ein definiertes Drehmoment angezogen. Das führt zu einer prozesssicheren Montage selbstfurchender Schrauben.

Schraubstellen sollen einfach zugänglich sein, damit Werker keine unnötigen Bewegungsabläufe ausführen müssen. Schraubengewinde zur Kunststoffdirektverschraubung sind in der Regel so geformt, dass genügend Kunststoff im gefurchten Mutterngewinde verbleibt, um die entsprechende Verankerungsfestigkeit zu gewährleisten. Die Einstellung der Drehzahl und des Schraubzyklus ist hierbei mindestens auf die thermischen und mechanischen Eigenschaften des gewählten Kunststoffes abgestimmt. Bauteile sollen werkstoffgerecht konstruiert sein, um gleichbleibende Schraubergebnisse an allen Domen des Formteils zu gewährleisten. Monteure sollen über ein solides Verständnis der Schraubtechnik verfügen und die Werkzeuge beherrschen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das erfolgreiche Verbinden von Kunststoffen ein solides Grundverständnis aller am Prozess beteiligten Schritte voraussetzt. Die Einzelbetrachtung von nur einer Schraube oder der Schraubanlage führt nicht immer zum gewünschten Ergebnis.

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Richtige Werkzeugwahl für Kunststoffdirektverschraubung

Prozesssicheres Verschrauben ist grundsätzlich an die Reproduzierbarkeit der Schraubergebnisse und die Präzision der Schrauber gekoppelt. Dies setzt eine geeignete Wahl des Werkzeuges und des Montageplatzes voraus.

Die Auswahl der Schraubanlage richtet sich in erster Linie nach den Anforderungen der Verbindung. Unter Berücksichtigung der Frage „Was passiert, wenn die Schraubverbindung versagt?“ sollte jeder Schraubfall einer Gefährdungsbeurteilung nach eingeteilt werden. Beispielsweise durch eine Schraubfallklassifizierung nach VDI/VDE 2862 in die Klassen A, B oder C (A = sicherheitskritisch, B = funktionskritisch, C = unkritisch). Zur Entscheidungsfindung ist die Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse (FMEA) ein hilfreiches Werkzeug. Zu unterscheiden ist zusätzlich nach dem Grad der Automatisierung – vom manuellen Anzug bis hin zur vollautomatisierten Mehrspindelanlage.

Von Handverschraubung rät Dessouter ab

Bei der Direktverschraubung werden die thermischen Eigenschaften thermoplastischer Kunststoffe genutzt, um das Mutterngewinde spannungsarm und rissfrei auszuformen. Von der Handverschraubung rät Dessouter ab, weil diese nicht kontinuierlich und mit viel zu niedriger Drehzahl erfolgt. Je nach Schraubfallklasse und Anzugform müssen die Werkzeuge in der Lage sein, Kontroll- und/oder Steuergrößen direkt oder indirekt zu messen. Je höher die Schraubfallklasse und der Automatisierungsgrad, desto höher sind auch die Anforderungen an das eingesetzte Werkzeug und die Dokumentationsfähigkeit.

Nach DSV RL 2241-1 (Richtlinie zur Direktverschraubung von Formteilen aus Kunststoffen) soll das Anziehdrehmoment aus niedriger Drehzahl angefahren werden, um ein Überschießen zu vermeiden. Infolge der niedrigen Festigkeit und der Temperaturempfindlichkeit vieler Kunststoffe spielen die Abschaltgenauigkeit und die Größe des gewählten Werkzeuges zusätzlich eine große Rolle.

Die Kunststoffdirektverschraubung ist ein gängiges Verfahren zum adaptiven Verbinden von Formteilen aus Kunststoff. Dabei lohnt ein Blick auf den gesamten Prozess und über die VDI 2230 hinaus. Zudem sollten Schraubenexperten frühzeitig in die Entwicklung einbezogen werden. (sh)

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Aktuelles aus Forschung und Entwicklung zur Direktverschraubung von Kunststoffen

Zahlreiche Veröffentlichungen und Dissertationen lassen vermuten, dass die Direktverschraubung von Kunststoffen hinreichend erforscht ist. Doch die Anforderungen an die Schraubtechnik wachsen weiter, das Potenzial der Leichtbauweise wird vermehrt ausgeschöpft, duromere Werkstoffe erleben eine sogenannte Renaissance und es werden veraltete, immer noch gängige Schriften genutzt.

Die Entwicklung im Bereich der Kunststoffdirektverschraubung ist noch nicht ausgereizt. So wird derzeit beispielsweise der Vorspannkraftverlust beim Verschrauben von Duroplasten genauer untersucht. Ein weiteres Hochschulprojekt befasst sich mit Langzeituntersuchungen thermoplastischer Werkstoffe und der Analyse bestehender Vorgaben. Aber auch die Kombination unterschiedlicher Verbindungssysteme (Schraube und eine Art Blindnietmutter aus Kunststoff) steht im Fokus einer Forschungseinrichtung. In einer Konstruktionsempfehlung eines führenden Polymer-Werkstoffherstellers werden unter Einbeziehung des Schraubendurchmessers keine Drehzahlen beschrieben, sondern die Umfangsgeschwindigkeit zwischen 2 m/s und 6 m/s gefordert. Das erscheint hinsichtlich der üblichen Empfehlung, die bei 500 min-1 liegt, ohne Berücksichtigung des Schraubendurchmessers plausibel. Dies ließe sich im Rahmen einer Parameterstudie prüfen.

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