Leichtbau Bionik in die Entwicklung integrieren

Autor / Redakteur: Prof. Dr. Heike Beismann * / Dipl.-Ing. Dorothee Quitter

Für die Entwicklung eines bionischen Produktes kann die VDI-Richtlinie 2221 als Basis und Ausgangspunkt für ein methodisches Vorgehen verwendet werden. Sieben Arbeitsschritte führen zum Ziel.

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Für die gleichmäßige Durchströmung von Formwerkzeugen mit Kühlmittel kann die Aderstruktur des Frauenhaarfarns als biologisches Vorbild dienen. Die Lösung erfolgt über den geometrischen Frac-Therm-Algorithmus.
Für die gleichmäßige Durchströmung von Formwerkzeugen mit Kühlmittel kann die Aderstruktur des Frauenhaarfarns als biologisches Vorbild dienen. Die Lösung erfolgt über den geometrischen Frac-Therm-Algorithmus.
(Bild: Beismann/Grunewald; ©Kanea - stock.adobe.com)

Die VDI-Richtlinie 2221 (Methodik zum Entwickeln und Konstruieren technischer Systeme und Produkte) behandelt allgemeingültige, branchenunabhängige Grundlagen methodischen Entwickelns und Konstruierens und definiert diejenigen Arbeitsabschnitte und Arbeitsergebnisse, die wegen ihrer generellen Logik und Zweckmäßigkeit Leitlinie für ein Vorgehen in der Praxis sein können. Da es sich bei der Entwicklung eines bionischen Produktes im Kern ebenfalls um einen Entwicklungsprozess handelt, kann die VDI 2221 als Basis und Ausgangspunkt für ein methodisches Vorgehen zur Entwicklung bionischer Produkte verwendet werden. Dies gilt umso mehr, als dass die VDI 2221 ausdrücklich branchenunabhängige Angaben macht.

Der Entwicklungsprozess der VDI 2221 umfasst sieben Arbeitsschritte, in denen die notwendigen Aufgaben angegeben werden, und nennt die aus den Aufgaben resultierenden Arbeitsergebnisse.

1. Aufgabe klären und präzisieren

Ausgehend von einem Technology Pull-Prozess kommt die gestellte Aufgabe aus der Technik. Im ersten Arbeitsabschnitt eines Entwicklungsauftrags gilt es nun die Aufgabenstellung zu klären und zu präzisieren. Arbeitsergebnis ist eine Anforderungsliste, die je nach Aufgabenlagerung auch als Pflichtenheft formuliert sein kann. Um diese Aufgabe zu erfüllen, können verschiedene Analyse- und Zielvorgabe-Methoden eingesetzt werden, aber auch Kosten und Wirtschaftlichkeitsberechnungsverfahren fließen hier ein.

In dieser Phase des Entwicklungsprozesses geht es zunächst um die Festlegung rein technischer Anforderungen. Dennoch können Bionik und Biologie bereits in diesem Arbeitsabschnitt eine wesentliche Rolle spielen. Insbesondere in größeren bionischen Projekten ist es bereits zu Beginn sinnvoll, das Projektteam interdisziplinär zusammenzusetzen. Die Herausforderung liegt hier methodisch zunächst darin, in einem interdisziplinären Team die Gedankenwelt der Anderen zu erfassen. Workshops mit verschiedenen Kreativitätstechniken können hier helfen, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln.

2. Funktionen und Strukturen ermitteln

In diesem Arbeitsabschnitt geht es um die Ermittlung der Gesamtfunktion und um die zu erfüllenden Teilfunktionen. Als Arbeitsergebnis werden Funktionsstrukturen festgelegt, zu denen die VDI-Richtlinie einige Methoden aus dem Bereich der Analyse und Zielevorgabenmethoden, insbesondere der Funktionsstrukturierung, nennt.

Die interdisziplinäre Einbindung der Fachleute aus der Bionik bzw. Biologie in das Projektteam ist auch hier sinnvoll, um die Kommunikation zwischen verschiedenen Fachdisziplinen zu erleichtern. Insbesondere bei der Ermittlung von Funktionsstrukturen ist es wichtig, frühzeitig mögliche Struktur-Funktions-Zusammenhänge, wie sie insbesondere in der Biologie eine große Rolle spielen, zu erkennen und zuordnen zu können. Auch wenn es zunächst darauf ankommt, eine rein technische Beschreibung der geforderten Funktionen zu erreichen, können in einem bionischen Projekt die erarbeiteten Funktionen in einen biologischen Kontext gebracht werden. Es können die ersten Analogien in den Funktionen zwischen biologischen und technischen Systemen herausgearbeitet werden.

3. Suchen nach Lösungsprinzipien

Im Arbeitsabschnitt 3 der VDI 2221 werden für alle Funktionen Lösungsprinzipien gesucht. Als Arbeitsergebnis werden eine oder mehrere prinzipielle Lösungen erwartet. Dabei beschreibt eine prinzipielle Lösung eine grundsätzliche Lösung für eine abgegrenzte Konstruktionsaufgabe, während Lösungsprinzipien keine unmittelbare Bindung an eine bestimmte Konstruktionsaufgabe haben müssen.

Eine Reihe von Methoden zur Entwicklung von Lösungsideen steht für die Suche nach Lösungsprinzipien zur Verfügung. Diese reichen von Kreativitätstechniken über morphologische Kästen bis zur Nutzung von bereits bestehenden Lösungen in Konstruktionskatalogen. Ziel ist es, weitere Lösungsvarianten zu entwickeln. Anschließend müssen Bewertungsverfahren und Entscheidungstechniken eingesetzt werden, um aus den gefundenen Lösungsprinzipien, die erfolgversprechendsten herauszuarbeiten.

Für die festgelegten Funktionen der Funktionsstruktur können auch Lösungsprinzipien in der Natur gefunden werden. Die Grundlage für eine Übertragbarkeit biologischer in technische Systeme ist darin begründet, dass für beide Systeme die gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten und Konstanten gelten. In diesem Arbeitsabschnitt spielt die Biologie für ein bionisches Projekt eine entscheidende Rolle. Für ein konventionelles Projekt, in dem lediglich der Suchraum erweitert werden soll, muss die Suche nach biologischen Vorbildern und Funktionen explizit eingebracht werden. Ein herkömmlicher Entwicklungsprozess kann zumindest in diesem Arbeitsabschnitt um einen bionischen Ansatz erweitert werden.

Insbesondere bionische Optimierungsverfahren können hier auf ihre Anwendbarkeit für die vorliegende Aufgabe hin überprüft werden. Bereits etablierte bionische Optimierungsverfahren, wie Strukturoptimierungen, Evolutionäre Algorithmen oder der geometrische Algorithmus FracTherm haben das Potenzial, in überschaubaren Zeitfenstern Lösungsvorschläge zu generieren. An dieser Stelle im Entwicklungsprozess muss geprüft werden, ob die Methoden die gewünschten Lösungsprinzipien liefern können und welche Expertise dafür eingeholt werden muss.

4. Gliedern in realisierbare Module

Im Arbeitsabschnitt 4 wird die prinzipielle Lösung, die weiterverfolgt werden soll, in realisierbare Module gegliedert, bevor die arbeitsaufwendige Konkretisierung erfolgt. Arbeitsergebnis ist eine modulare Struktur, die bereits die realisierbare Lösung einschließlich der Verknüpfung (Schnittstellen) der verschiedenen Module erkennen lässt. Auch hier können wieder Methoden zur Funktionenstrukturierung, aber auch Kreativitätstechniken und Kosten- und Wirtschaftlichkeitsberechnungsverfahren eingesetzt werden.

Wurden im vorangehenden Abschnitt prinzipielle Lösungen aus den biologischen Struktur-Funktions-Zusammenhängen abgeleitet, müssen bei der Teilung in realisierbare Module nun Fachleute aus der Biologie und den Ingenieurwissenschaften eng zusammenarbeiten, um die entsprechenden Module passgenau zu entwickeln. Dabei ist es erforderlich, ein sinnvolles Maß an Abstraktion zu erreichen. Das bedeutet, es wird das biologische Lösungsprinzip vereinfacht, ohne es beliebig zu machen oder im anderen Extrem lediglich eine Kopie eines biologischen Vorbilds zu erstellen.

5. Gestalten der maßgebenden Module

Im Arbeitsabschnitt 5 werden die maßgebenden Module konkretisiert. Es entstehen Vorentwürfe für die einzelnen Module. In diesem Arbeitsabschnitt ist insbesondere ingenieurwissenschaftliches Know-how notwendig.

In einem bionischen Projekt sollte dennoch die enge Abstimmung mit Fachleuten aus der Biologie sichergestellt werden, um die Vorentwürfe nicht losgelöst von den biologischen Lösungsprinzipien zu entwickeln und dadurch Innovations- höhe zu verlieren. In diesem Arbeitsabschnitt treten nun Simulationsberechnungen in den Vordergrund, während Lösungsfindungsmethoden in den Hintergrund treten. Dafür werden Wirtschaftlichkeitsberechnungen in diesem Abschnitt wich- tiger.

6. Gestalten des gesamten Produktes

Im Arbeitsabschnitt 6 werden die vorher einzeln vorliegenden Module ergänzt und miteinander verknüpft. Arbeitsergebnis ist ein Gesamtentwurf, der alle wesentlichen Festlegungen enthält. Hier zeigt sich insbesondere ingenieurwissenschaftliches Können. Es werden in diesem Abschnitt ebenfalls die Methoden aus dem vorhergehenden Abschnitt genutzt. Die notwendige Expertise aus der Biologie ist in diesem Arbeitsabschnitt geringer als in den vorhergehenden.

7. Nutzungsangaben ausarbeiten

Im Arbeitsabschnitt 7 wird der Gesamtentwurf ausgearbeitet. Arbeitsergebnis ist die Produktdokumentation mit Nutzungsangaben. Auch hier können die Methoden aus den vorangegangenen Arbeitsabschnitten eingesetzt werden. Die Expertise aus der Biologie kann weiter vermindert werden. (qui)

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* Prof. Dr. Heike Beismann, Lehrgebiet Biologie und Bionik, Westfälische Hochschule Bocholt

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